Das Bild
hervorquellen
und an ihren Fingern hinabfließen. Es sah aus wie Fruchtsaft,
wie Erdbeer-Kool-Aid.
Ohne weiter darüber nachzudenken, worauf sie sich eingelassen hatte, hob Rosie die Hände über die Schultern,
packte ihr Nachthemd, beugte sich nach vorne und zog es
sich über den Kopf. Sofort stand sie in der kältesten Dusche
der Welt und rang nach Luft, während der Regen wie Nadelstiche auf ihre Wangen, Schultern und ihren ungeschützten
Rücken herunterprasselte. Sie verkrampfte sich und bekam
von Kopf bis Fuß eine Gänsehaut.
»Au!« rief sie mit einer verzweifelten, atemlosen schwachen Stimme. »Herrje! Ist das kalt!«
Sie ließ ihr immer noch weitgehend trockenes Nachthemd
über die Hand rutschen, mit der sie den blutigen Fetzen hielt,
und erspähte einen Stein, so groß wie ein Zimtbrötchen, der
zwischen zwei Bruchstücken der umgestürzten Säule lag. Sie
hob ihn auf, ließ sich auf die Knie sinken und breitete dann
ihr Nachthemd über Kopf und Schultern aus, so wie ein
Mann, der in einen unerwarteten Wolkenbruch gerät, seine
Zeitung als behelfsmäßiges Zelt benützen würde. Unter die sem zeitweiligen Schutz wickelte sie den blutgetränkten Fetzen um den Stein. Es blieben zwei la nge, feuchte Stücke übrig, die Rosie zusammenband, wobei sie das Gesicht verzog,
als »Wendys« vom Regen verwässertes Blut herausfloß und
im Boden versickerte. Als sie den blutigen Streifen um den
Stein gebunden hatte, wickelte sie ihr (längst nicht mehr
trockenes) Nachthemd um den Stein, wie ihr befohlen worden war. Sie wußte, der größte Teil des Blutes würde sowieso
herausgewaschen werden. Dies war kein Regenguß und
kein Wolkenbruch mehr. Es war eine Sturzflut.
»Los doch!« sagte die dunkelhäutige Frau im roten Kleid
zu ihr. »Geh in den Tempel! Geh schnurstracks durch und
bleib nicht stehen! Heb nichts auf und glaub nichts, was du
siehst und hörst. Es spukt dort, da beißt keine Maus den
Faden ab, aber nicht mal im Tempel des Stiers gibt es ‘nen
Geist, der ‘ner lebenden Frau was tun kann.«
Rosie zitterte heftig, durch das Wasser in ihren Augen verschwamm ihre Sicht, Wasser tropfte ihr von der Nase, Wassertropfen hingen an ihren Ohrläppchen wie ein exotischer
Schmuck. »Wendy« stand ihr gegenüber, das Haar klebte ihr
an Stirn und Wangen, ihre dunklen Augen blitzten. Sie
mußte brüllen, um sich über den unbarmherzigen tosenden
Wind hinweg verständlich zu machen.
»Geh durch das Tor auf der anderen Seite des Altars, dann
kommst du in einen Garten, wo alle Pflanzen tot sind! Hinter
dem Garten wirst du einen kleinen Wall sehen, wo auch alle
Bäume tot sind, außer einem! Zwischen dem Garten und
dem Wäldchen fließt ein Bach! Du darfst nicht davon trinken,
so sehr du es auch möchtest - du darfst es nicht, nicht mal
berühren darfst du ihn! Spring auf den Steinen zur anderen
Seite! Wenn du dir auch nur einen einzigen Finger mit dem
Wasser naß machst, wirst du alles vergessen, sogar deinen
Namen!«
Elektrizität raste mit grellem Lichtschein durch das Firmament und verwandelte die Gewitterwolken in die Gesichter
strangulierter Kobolde. Rosie hatte in ihrem ganzen Leben
noch nie so gefroren oder ihr Herz so wild schlagen gespürt,
das verzweifelt versuchte, ihre nasse, kalte Haut mit Wärme
zu versorgen. Und wieder kam ihr der Gedanke: Dies war
ebensowenig ein Traum, wie das Wasser, das in Strömen vom
Himmel fiel, ein Nieselregen war.
»Geh in das Wäldchen! Zu den toten Bäumen! Der Baum,
der noch gesund ist, ist ein Granatapfelbaum! Heb die Samen
auf, die in den Früchten am Boden sind, aber probier die
Früchte nicht, steck dir nicht mal die Hand in den Mund, mit
der du die Kerne berührt hast! Geh bei dem Baum die Stufen
runter in die Gänge, die darunter liegen! Such das Baby und
bring es her, aber hüte dich vor dem Stier! Hüte dich vor dem
Stier Erinyes! Und jetzt geh! Beeil dich!«
Sie fürchtete sich vor dem Tempel des Stiers mit seinen
seltsam verzerrten Perspektiven, daher stellte Rosie erleichtert fest, daß ihr sehnlicher Wunsch, endlich aus diesem
Gewitter herauszukommen, stärker als alles andere war. Sie
wollte weg von Wind und Blitzen und Regen, aber sie wollte
auch ein Dach über dem Kopf haben, falls der Regen zu
Hagel werden sollte. Sie fand die Vorstellung, nackt bei
Hagel im Freien zu sein, und sei es nur im Traum, äußerst
unangenehm.
Sie ging ein paar Schritte, dann blieb sie stehen und drehte
sich zu der anderen Frau um. »Wendy« sah so nackt aus wie
Rosie selbst, da der
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