Das Bild
Frau in dem Chiton. Sie hatte sich nicht umgedreht, aber nun konnte Rosie die Bewegungen ihrer erhobenen Hand sehen, während die Frau den Hügel hinabsah, und
die gerade noch sichtbare linke Brust, die sich beim Atmen
hob und senkte.
Rosie holte tief Luft und trat in das Bild hinein.
4
Auf der anderen Seite war es mindestens zehn Grad kühler,
das hohe Gras kitzelte sie an Knöcheln und Schienbeinen.
Einen Augenblick glaubte sie, daß sie ganz leise ein Baby
weinen hören konnte, doch dann verstummte das Geräusch.
Sie warf einen Blick über die Schulter und rechnete damit,
daß sie ihr Zimmer sehen würde, doch das war nicht mehr
da. Ein knorriger alter Olivenbaum breitete seine Wurzeln
und Äste an der Stelle aus, wo Rosie in diese Welt getreten
war. Darunter sah sie die Staffelei eines Malers und einen
Hocker davor. Auf dem Hocker stand ein offener Malkasten
mit Pinseln und Farben.
Die Leinwand auf der Staffelei war genau so groß wie das
Bild, das Rosie im Liberty City Kredite & Pfandleihe gekauft
hatte. Es zeigte ihr Zimmer in der Trenton Street, wie es sich
von der Wand darbot, wo sie Rose Madder aufgehängt hatte.
Eine Frau, unverkennbar Rosie selbst, stand mitten im Zimmer, Richtung Tür zum Treppenhaus. Ihre Haltung und Position entsprachen nicht exakt derjenigen der Frau, die auf die
Tempelruine hinunter sah
- beispielsweise hatte sie die
Hand nicht erhoben -, kam ihr aber doch immerhin so nahe,
daß Rosie es mit der Angst zu tun bekam. Und noch etwas an
dem Bild war beängstigend: Die Frau in dem Bild trug eine
dunkelblaue Hose und ein pinkfarbenes ärmelloses Oberteil.
Das war die Kleidung, die Rosie für ihren Motorradausflug
mit Bill tragen wollte. Ich muß etwas anderes anziehen, dachte
sie panisch, als könnte sie verändern, was sie jetzt sah, indem
sie in der Zukunft andere Kle idungsstücke trug.
Ein Schatten, der nicht dorthin gehörte, war in dem Zimmer zu sehen - er fiel wie ein Schmutzfleck über das Sofa, das
eigentlich nur ein Kuschelsessel war, und die Wand dahinter.
Die Frau in dem Bild sah zur Tür, und Rosie glaubte an der
Haltung ihres Rückens und ihrer Schulter zu sehen, daß sie
aus dieser Richtung eine Gefahr erwartete, aber vielleicht
war die Bedrohung schon bei ihr im Zimmer, und sie sah sie
nur nicht.
Wie Alma St. George in dem neuen Buch von »Richard Racine«, dachte Rosie.
Etwas knabberte an ihrem Oberarm, und Rosie stieß einen
kurzen Schrei aus. Sie drehte sich um und erblickte das
kleine Pferd, das sie mit schuldbewußten braunen Augen
ansah. Donner grollte am Himmel.
Eine Frau stand neben dem hübschen Pferdekarren, vor
den das struppige kleine Tier gespannt war. Sie trug ein
rotes, in zahlreiche Falten gelegtes Gewand. Es reichte ihr bis
zu den Knöcheln, war aber gazeartig, fast transparent; Rosie
konnte den warmen Farbton ihrer milchkaffeebraunen Haut
unter den kunstvollen Falten erkennen. Ein Blitz zuckte über
den Himmel, und Rosie sah wieder, was ihr zuerst an dem
Bild aufgefallen war, nachdem Bill sie von dem Essen in
Pop’s Kitchen nach Hause gebracht hatte: den Schatten des
Wagens, der auf das Gras fiel, und den Schatten der Frau, der
aus dem des Wagens hervorwuchs.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte die Frau in dem roten
Gewand. »Radamanthus ist dein kleinstes Problem. Der frißt
nur Gras und Klee. Er wollte nur an dir schnuppern, das ist
alles.«
Rosie verspürte eine plötzliche, überwältigende Erleichterung, als ihr klar wurde, daß dies die Frau war, die Norman
stets (in einem Tonfall maßloser Verbitterung) »schlampige
Mulattenschnalle« genannt hatte. Es war Wendy Yarrow, aber
Wendy Yarrow war tot, also mußte dies ein Traum sein,
Q. E. D. So realistisch er auch wirken, so realistisch die Einzelheiten auch sein mochten (zum Beispiel wischte sie sich gerade eine Spur Feuchtigkeit vom Oberarm, die die Schnauze
des Pferdes hinterlassen hatte), es war nur ein Traum.
Selbstverständlich ist es einer, sagte sie sich. Niemand geht einfach in Bilder hinein, Rosie.
Das hatte wenig bis gar keine Wirkung auf sie. Die Tatsache, daß es sich bei der Frau am Wagen um Wendy Yarrow
handelte, dagegen schon.
Der Wind wehte, und wieder vernahm sie das Schreien des
Babys. Und jetzt sah Rosie noch etwas: auf dem Wagen stand
ein großer, aus grünem Schilf geflochtener Korb. Seidenband
zierte den Griff, und an den Ecken befanden sich Schleifchen
aus Seide. Der Saum einer eindeutig handgewobenen rosafarbenen Decke hing über den Rand.
»Rosie.«
Die Stimme klang tief und
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