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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Höchstwahrscheinlich existierten
die Ungereimtheiten nur in ihrem Kopf, wo die letzten Hirngespinste noch herumspukten, aber auch wenn sie davon
ausging, daß es wirklich das Bild war, na und? Sie spürte
nichts wirklich Böses daran.
Aber kannst du sagen, daß es dir nicht gefährlich vorkommt,
Rosie? Nun schwang ein Unterton von Furcht in der Stimme
von Ms. Praktisch-Vernünftig mit. Vergiß das Böse. Kannst du
wirklich sagen, daß das Bild nicht gefährlich wirkt?
Nein, das konnte sie nicht sagen, aber andererseits lauerten
überall Gefahren. Man mußte nur daran denken, was Anna
Stevensons Ex-Mann zugestoßen war.
Aber sie wollte nicht daran denken, was Peter Slowik zugestoßen war; sie wollte nicht wieder auf der Straße der
Schuldgefühle wandeln, wie sie es in den Therapiesitzungen
manchmal genannt hatten. Sie wollte an den Samstag denken, und wie es sein würde, von Bill Steiner geküßt zu werden. Würde er ihr die Hände auf die Schultern legen, oder
um die Taille? Wie genau würden sich seine Lippen auf ihren
anfühlen? Würde er…
Rosies Kopf sank auf die Seite. Donner grollte. Die Grillen
summten lauter denn je, und dann hüpfte eine auf dem
Boden in Richtung Bett, aber Rosie bemerkte es nicht. Diesmal war die Leine gerissen, die ihren Geist mit ihrem Körper
verband, und sie schwebte davon in die Dunkelheit.
3
    Ein Blitzschlag weckte sie, nicht purpurn, sondern gleißend
weiß. Dem Blitz folgte Donner - nicht grollend, sondern
ohrenbetäubend laut.
    Rosie fuhr kerzengerade im Bett hoch, holte tief Luft und
drückte sich den Saum der Decke an die Brust. Ein weiterer
Blitz zuckte, und in seinem Licht konnte sie ihren Tisch, den
Küchentresen, das kleine Sofa, eigentlich kaum mehr als ein
großer Sessel, die offene Tür zum Bad und den an den Ringen zurückgezogenen Duschvorhang mit seinem Gänseblümchenmuster erkennen. Das Licht war so grell, ihre Augen so
unvorbereitet, daß sie die Phantombilder in Komplementärfärben immer noch sah, als es in dem Zimmer längst wieder
dunkel geworden war. Sie stellte fest, daß sie das Baby
immer noch schreien hören konnte, aber die Grillen waren
verstummt. Und es wehte ein Wind. Das konnte sie nicht nur
hören, sondern spüren. Er wehte ihr das Haar von den Schläfen zurück, und sie konnte das Rascheln-Knistern-Schaben
von Papier hören. Sie hatte die fotokopierten Skriptseiten des
nächsten Romans von »Richard Racine« auf dem Tisch liegen
lassen, und der Wind hatte sie kunterbunt durcheinander auf
den Boden geweht.
    Das ist kein Traum, dachte sie und schwang die Füße aus
dem Bett. Als sie zum Fenster sah, stockte ihr der Atem in der
Kehle. Entweder war das Fenster verschwunden, oder aber
die ganze Wand war zum Fenster geworden.
    Wie auch immer, sie konnte die Tremont Street und den
Bryant Park nicht mehr sehen; statt dessen sah sie eine Frau
in einem dunkelroten Chiton, die auf der Kuppe eines
bewachsenen Hügels stand und zu der Ruine eines Tempels
hinuntersah. Aber nun flatterte der Saum ihres kurzen
Gewands an den langen, glatten Oberschenkeln der Frau;
nun konnte Rosie feine blonde Haare, die sich aus dem Zopf
gelöst hatten, wie Plankton im Wind wogen sehen, und
ebenso die purpur-schwarzen Gewitterwolken, die am Himmel dahinrasten. Und sie konnte erkennen, wie das struppige Pferd beim Grasen den Kopf bewegte.

Wenn es sich um ein Fenster handelte, dann stand es sperrangelweit offen. Vor Rosies Augen steckte das Pferd die
Schnauze in ihr Zimmer, schnupperte an den Bodendielen,
fand sie uninteressant, wich zurück und graste auf seiner
Seite weiter.
    Noch mehr Blitze, neuerliches Donnergrollen. Der Wind
wehte wieder, und Rosie hörte die fortgewehten Seiten
durch die Kochnische wirbeln und flattern. Der Saum ihres
Nachthemds flatterte an ihren Beinen, als sie aufstand und
langsam auf das Bild zuging, das mittlerweile die gesamte
Wand beanspruchte, vom Boden bis zur Decke, von einer
Seite auf die andere. Der Wind wehte ihr das Haar zurück,
und sie konnte den bevorstehenden Regen süß in der Luft
riechen.
    Und er wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, dachte
sie. Ich werde naß werden. Wir alle, schätze ich.
ROSE, WAS HAST DU VOR? kreischte Ms. Praktisch-Vernünftig. WAS IN GOTTES NAMEN, HAST D
Rosie erstickte die Stimme - in diesem Augenblick kam es
ihr so vor, als hätte sie für ihr ganzes Leben genug von ihr
gehört - und blieb vor der Wand stehen, die keine Wand
mehr war. Direkt vor ihr, keine zwei Schritte entfernt, stand
die blonde

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