Das Bild
vorderen Bereich des Tempels stehen und hob
eines der grünen Bücher auf, das in der zweiten Reihe lag.
Als sie es aufklappte, schlug ihr ein so starker Fäulnisgeruch
entgegen, daß sie fast daran erstickte. Das Bild am oberen
Seitenrand war eine grobe Skizze, wie sie im Methodistengesangbuch ihrer Jugend nie abgedruckt gewesen war; sie
zeigte eine Frau auf den Knien, die Fellatio an einem Mann
vollzog, dessen Füße keine Füße waren, sondern Hufe. Sein
Gesicht war nicht sorgfältig ausgeführt, nur angedeutet,
dennoch sah Rosie die gräßliche Ähnlichkeit… oder bildete
sich ein, sie zu sehen. Er sah wie Harley Bissington aus, Normans früherer Partner, der jedesmal so aufmerksam ihren
Rocksaum angestarrt hatte, wenn sie sich setzte.
Unter dem Bild war die vergilbte Seite eng mit kyrillischen
Worten vollgeschrieben, die Rosie nicht lesen konnte, aber
trotzdem kannte. Sie brauchte nur einen Moment, bis ihr der
Grund dafür klar wurde; es waren die Buchstaben von Peter
Slowiks Zeitung, die er gelesen hatte, als sie zu dem Stand
von Traveller’s Aid gegangen war und ihn um Hilfe gebeten
hatte.
Dann fing das Bild erschreckend unvermittelt an, sich zu
bewegen; die Linien schienen auf ihre weißen, vom Wasser
runzligen Finger zuzukriechen und kleine Schleimspuren,
wie von Schnecken, zu hinterlassen. Irgendwie lebte das
Buch. Rosie schlug es zu, und als sie das feuchte, schmatzende Geräusch aus seinem Inneren hörte, war ihr Hals wie
zugeschnürt. Als sie es fallenließ, schreckte der Knall, mit
dem es auf die Bank aufprallte, oder Rosies entsetzter Aufschrei eine Schar Fledermäuse im schattigen Bereich des, wie
sie vermutete, Chorgestühls auf. Mehrere kreisten ziellos
über ihr dahin, schwarze Schwingen trugen abscheulich
plumpe schwarze Leiber durch die Luft, und dann verkrochen sie sich wieder in ihren Löchern. Vor Rosie ragte der
Altar auf, und sie bemerkte erleichtert die schmale, offene
Tür links davon, durch die ein Rechteck reinen, weißen
Lichts hereinfiel.
Duuu bischt rischtig Rouu-schiee, wisperte die zungenlose,
auf kalte Weise amüsierte Stimme des Tempels. Unnd duuu
bischt Rouu-schiee Rischtig … komm hierrnherrr zu mirrr …
unnd isch beschorgsch dirrrr tüschtig…
Sie drehte sich nicht um, sondern hielt den Blick starr auf
die Tür und das Tageslicht dahinter gerichtet. Der Regen
hatte nachgelassen, das Grollen von oben war zu einem konstanten, tiefen Murmeln abgeklungen.
Ist nur was für Männer, Rouu-schiee, flüsterte der Tempel
und fügte dann etwas hinzu, das Norman immer gesagt
hatte, wenn er eine ihrer Fragen nicht beantworten wollte,
aber auch nicht besonders wütend auf sie war: Das ist Männersache.
Im Vorbeigehen sah sie in den Altarbereich, wandte den
Blick aber hastig wieder ab. Er war leer - es gab keine Kanzel,
keine Symbole, keine heiligen Bücher -, aber sie sah wieder
einen Manta-Schatten auf dem kahlen Stein. Seine rostrote
Farbe deutete auf Blut hin, und die Größe des Schattens
sprach dafür, daß im Lauf der Jahre eine Menge davon vergossen worden war. Eine Menge.
Wie dasch Kakerlaken-Hotel, Rouu-schiee, flüsterte der Raum,
und das Laub auf dem Boden raschelte und gab ein Geräusch
von sich wie Gelächter, das zwischen Zähnen ohne Zahnfleisch hervordringt. Schie gehn rein, aber schie gehn nicht wieder rauuuuuuusch.
Sie ging mit festen Schritten weiter auf die Tür zu, sah starr
geradeaus und versuchte, nicht auf die Stimme zu hören. Sie
rechnete halb damit, daß ihr die Tür vor der Nase zuschlagen
würde, wenn sie davor stand, aber sie blieb offen. Und auch
kein lauerndes Schreckgespenst mit Normans Gesicht sprang
heraus. Sie trat auf eine flache Steinstufe, roch den frischen
Duft von regennassem Gras und stellte fest, daß es wieder
wärmer wurde, obwohl der Regen nicht völlig nachgelassen
hatte. Überall tropfte und plätscherte Wasser. Donner grollte
(aber sie war sicher, daß er sich entfernte). Und das Baby, von
dem sie in den letzten Minuten nichts wahrgenommen hatte,
nahm sein fernes Weinen wie der auf.
Der Garten war zweigeteilt
- Blumen links, Gemüse
rechts -, aber alles war welk. Unwiederbringlich verdorrt,
und durch das üppige Grün um den Garten und den Tempel
des Stiers herum, wirkte alles umso trostloser im Vergleich wie ein Leichnam mit offenen Augen und heraushängender
Zunge. Riesige Sonnenblumen mit gelben, faserigen Stengeln, braunen Naben und eingerollten, verblaßten Blütenblättern überragten alles wie kranke Gefangenenwärter in
einem
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