Das Bild
Der Knabe Norman war verschwunden, falls er je da gewesen war. Nun sah
sie in Stein gemeißelte Worte direkt über sich. LUTSCH MEINEN AIDSKRANKEN SCHWANZ, stand da.
In Träumen bleibt nichts konstant, dachte sie. Sie sind wie
Wasser.
Sie sah über ihre Schulter und sah »Wendy« immer noch
bei der umgestürzten Säule stehen; in den zusammengefalle nen Spinnweben ihres Kleides sah sie total durchnäßt aus.
Rosie hob die freie Hand zu einem zaghaften Winken.
»Wendy« hob ebenfalls die Hand, dann blieb sie einfach
beobachtend stehen und schien den prasselnden Regen gar
nicht zu bemerken.
Rosie trat durch die breite Tür ins kühle Innere des Tempels. Sie blieb nervös stehen und war bereit, sofort wieder
hinauszulaufen, wenn sie sah … nun … wenn sie, sie wußte
nicht was, sah. »Wendy« hatte ihr gesagt, sie solle sich wegen
der Geister keine grauen Haare wachsen lassen, aber Rosie
dachte, die Frau im roten Kleid hatte gut reden; schließlich
war sie da draußen.
Sie nahm an, daß es drinnen wärmer war als draußen, aber
es kam ihr nicht wärmer vor der Tempel strahlte die
durchdringende Kälte von feuchtem Gestein aus, die Kälte
von Grüften und Mausoleen, und einen Augenblick war
Rosie nicht sicher, ob sie es über sich bringen konnte, den
schattigen Gang mit seinen uralten, hereingewehten Haufen
vertrockneten Herbstlaubs entlangzugehen, der vor ihr lag.
Es war einfach zu kalt … und zwar in weit mehr als einer
Hinsicht kalt. Sie stand schlotternd da, atmete kurz und
abgehackt, hatte die Arme fest vor der Brust überkreuzt, und
winzige Dampfschwaden stiegen von ihrer Haut empor.
Rosie berührte ihre linke Brustwarze mit der Fingerspitze
und war nicht überrascht, daß sie sich wie ein Stück Marmor
anfühlte.
Der Gedanke, daß sie wieder zu der Frau auf dem Hügel
zurückkehren mußte, die Vorstellung, ihr mit leeren Händen
gegenüberzutreten, rüttelte Rosie auf. Sie ging langsam und
vorsichtig den Gang entlang und horchte nach dem fernen
Wimmern des Babys. Es hörte sich meilenweit entfernt an,
als würde es durch eine vage, magische Verbindung zu ihr
übermittelt werden.
Geh hinunter und bring mir mein Baby.
Caroline. Der Name, den sie ihrem eigenen Baby hatte
geben wollen, das sie durch Normans Prügel verloren hatte,
kam ihr einfach so in den Sinn. Das Pochen in ihren Brüsten
fing wieder an. Rosie berührte sie und verzog das Gesicht.
Sie waren empfindlich.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit,
und sie fand, daß der Tempel des Stiers ein seltsam christliches Aussehen hatte - tatsächlich wies er eine gewisse Ähnlichkeit mit der Methodistenkirche von Aubreyville auf, die
sie zweimal die Woche besucht hatte, bis sie Norman heiratete. In derselben Methodistenkirche hatte sie geheiratet,
und dort hatte auch die Trauerfeier für ihre Eltern und ihren
kleinen Bruder nach dem Verkehrsunfall stattgefunden, bei
dem sie ums Leben gekommen waren. Rosie sah Reihen alter
Holzbänke, die ganz hinten waren, umgestürzt, und halb
unter Verwehungen nach Zimt duftender Blätter verborgen.
Weiter vorne standen sie noch aufrecht, in ordentlichen Reihen. In regelmäßigen Abständen lagen dickleibige grüne
Bücher darauf verteilt, bei denen es sich um das Methodist
Book of Hymns and Fraise handeln konnte, mit dem Rosie aufgewachsen war.
Als nächstes - während sie wie eine seltsame, nackte Braut
den Mittelgang entlang lief - bemerkte sie den Geruch. Unter
dem angenehmen Duft des Laubs, das im Lauf der Jahre zur
offenen Tür hereingeweht war, lauerte ein weniger angenehmer Geruch. Ein wenig wie Schimmel, ein wenig wie Mehltau, ein bißchen wie Fäulnis im Endstadium, und doch wie
nichts von alledem. Vielleicht alter Schweiß? Ja, vielleicht.
Und möglicherweise andere Körperflüssigkeiten. Samen,
kam ihr in den Sinn. Und Blut.
Nachdem ihr der Geruch aufgefallen war, folgte das fast
unbestreitbare Gefühl, daß sie von feindseligen Augen beobachtet wurde. Sie spürte, wie diese Augen ihre Nacktheit aufmerksam studierten, möglicherweise darüber grübelten,
jede unbedeckte Kurve und Linie zur Kenntnis nahmen und
sich die Bewegung ihrer Muskeln unter der nassen, glatten
Haut einprägten.
Will mit dir reden - aus der Nähe, schien der Tempel ihr unter
dem hohlen Trommeln des Regens und dem Knistern des
Laubs unter ihren bloßen Füßen zuzuflüstern. Mit dir reden ganz aus der Nähe … aber wir werden nicht lange reden müssen,
um zu sagen, was wir zu sagen haben. Oder, Rosie?
Sie blieb im
Weitere Kostenlose Bücher