Das Bild
Frau, die ein Usambaraveilchen aus
seinem Topf riß. Veränderung im Leben, wahrhaftig. Nein,
sie würde niemals schlafen. Schlaf war unmöglich.
Und mit diesem Gedanken versank sie nicht im Schlaf,
sondern in jenem Zwischenreich zwischen Schlafen und
Wachsein. Hier glitt sie langsam hin und her wie eine Luftblase, spürte am Rande das Summen des Dieselmotors, hörte
die Reifen auf dem Asphalt, ein Kind vier oder fünf Reihen
weiter, das seine Mutter fragte, wann sie bei Tante Norma
sein würden. Aber sie spürte auch, daß sie losgelöst von sich
war und ihr Verstand sich geöffnet hatte wie eine Blume
(selbstverständlich eine Rose) - wie er sich nur öffnen kann,
wenn er weder in dem einen noch in dem ändern Zustand
ist.
Ich bin richtig Rosie …
Carole Kings Stimme, die die Worte von Maurice Sendak
sang. Sie kamen hallend aus einer fernen Kammer durch den
Flur geschwebt, in dem sie sich befand, von den glasklaren,
geisterhaften Tönen eines Klaviers begleitet.
… und ich bin Rosie Richtig…
Ich werde doch schlafen, dachte sie. Allen Ernstes. Das muß
man sich vorstellen!
Ihr glaubt mir besser …Ich bin ziemlich wichtig …
Sie befand sich nicht mehr in dem grauen Flur, sondern in
einem dunklen, offenen Raum. Ihre Nase, ihr ganzer Kopf,
war von den Gerüchen des Sommers erfüllt, so süß und kräftig, daß es fast überwältigend war. Über allem lag der Duft
von Geißblatt, in ganzen Schwaden. Sie konnte Grillen
hören, und als sie aufschaute, sah sie das polierte Knochengesicht des Mondes hoch über sich. Sein weißes Leuchten
war allgegenwärtig und verwandelte den Nebel, der von
dem verfilzten Gras um ihre bloßen Beine aufstieg, in Rauch.
Ich bin richtig Rosie … und ich bin Rosie Richtig…
Sie hob die Hände mit gespreizten Fingern, so daß sich die
Daumen fast berührten; damit rahmte sie den Mond wie ein
Bild ein, und als der Nachtwind ihre bloßen Arme streichelte, konnte sie spüren, wie ihr Herz vor Glück anschwoll
und sich dann vor Angst zusammenzog. Sie spürte etwas
dösendes Wildes an diesem Ort, als könnten Tiere mit gewaltigen Zähnen in dem duftenden Unterholz lauern.
Rose. Komm hierher, Süße. Ich will mit dir reden - aus der Nähe.
Sie drehte den Kopf und sah seine Faust aus der Dunkelheit herausgeschnellt kommen. Eiskalte Funken des Mondlichts glitzerten auf den gravierten Buchstaben des Rings
von der Polizeiakademie. Sie sah seine verkrampft verzerrten Lippen, fast ein Lächeln …
… und erwachte stöhnend und mit schweißnasser Stirn
auf ihrem Sitz. Sie mußte eine ganze Weile schwer geatmet
haben, denn ihre Fensterscheibe war beschlagen und feucht
von ihrem Atem. Sie wischte mit dem Handrücken eine
Stelle frei und sah hinaus. Die Stadt war fast vollständig hinter ihnen zurück geblieben; sie fuhren durch eine vorstädtische Landschaft mit Tankstellen und Imbißbuden, aber
dahinter konnte sie weite Felder erkennen.
Ich bin ihm entkommen, dachte sie. Was mir auch jetzt passieren mag, ich bin ihm entkommen. Selbst wenn ich in Hauseingängen oder unter Brücken schlafen muß, ich bin ihm entkommen. Er
wird mich nie wieder schlagen, denn ich bin ihm entkommen.
Aber sie stellte fest, daß sie es nicht so recht glauben
konnte. Er würde wütend auf sie sein und versuchen, sie zu
finden. Da war sie ganz sicher.
Aber wie kann er das? Ich habe meine Spuren verwischt; ich
muße nicht mal den Namen meiner alten Schulfreundin niederschreiben, um meine Fahrkarte zu bekommen. Ich hab die BankCard weggeworfen, das war das Wichtigste. Also wie sollte er mich
finden können?
Sie wußte es nicht genau… aber es war sein Beruf, Leute zu
finden, und sie mußte sehr, sehr vorsichtig sein.
Ich bin richtig Rosie … und ich bin Rosie Richtig …
Ja, sie vermutete, daß beides stimmte, aber sie hatte sich in
ihrem ganzen Leben noch nie ziemlich wichtig gefühlt. Statt
dessen fühlte sie sich wie ein winziges Stück Treibgut mitten
im weiten Ozean. Das Entsetzen, das sie gegen Ende ihres
kurzen Traums erfüllt hatte, war noch da, aber die Spuren
von Hochgefühl und Glück auch; ein Gefühl, daß sie, wenn
auch nicht mächtig, doch immerhin endlich frei war.
Sie lehnte sich in ihrem hohen Bussitz zurück und sah, wie
die letzten Imbißrestaurants und Werkstätten aus ihrem
Blickfeld verschwanden. Dann sah sie nur noch das Land frisch gepflügte Felder und Baumreihen, die die sagenhafte,
wolkige grüne Färbung annahmen, welche ausschließlich
dem April vorbehalten ist. Sie sah die Bäume
Weitere Kostenlose Bücher