Das Bild
Und sie sah, seine Augen waren freundlich. Schwach und
verschwommen hinter den dicken Brillengläsern … aber
freundlich.
»Entschuldigen Sie, aber können Sie mir helfen?« fragte
sie.
3
Der freiwillige Helfer von Traveller’s Aid stellte sich als Peter
Slowik vor und hörte sich Rosies Geschichte schweigend
und aufmerksam an. Sie erzählte ihm soviel sie konnte, da sie
bereits zu dem Schluß gekommen war, daß sie nicht mit der
Freundlichkeit von Fremden rechnen konnte, wenn sie, sei es
aus Stolz oder Scham, die Wahrheit über sich zurückhielt.
Das einzig Wichtige, das sie ihm verschwieg - weil sie nicht
wußte, wie sie es ihm begreiflich machen sollte -, war die
Tatsache, wie unbewaffnet sie sich fühlte, wie vollkommen
unvorbereitet auf die Welt. Erst in den letzten achtzehn Stunden hatte sie erfahren, wieviel von der Welt sie nur aus dem
Fernsehen oder der Tageszeitung kannte, die ihr Mann nach
Hause brachte.
»Soweit ich verstehe, sind Sie Hals über Kopf gegangen«,
sagte Mr. Slowik, »aber haben Sie sich während der Busfahrt
keine Gedanken gemacht, was Sie tun oder wohin Sie gehen
könnten, wenn Sie hier ankommen? Überhaupt keine
Gedanken?«
»Ich dachte mir, ich würde für den Anfang vielleicht ein
Frauenhotel finden«, sagte sie. »Gibt es die noch?«
»Ja, ich weiß mindestens von dreien, aber selbst das billig
ste hat Preise, die Sie wahrscheinlich binnen einer Woche ruinieren würden. Es sind Hotels für reiche Ladys, die eine
Woche zum Einkaufen in die Stadt kommen, oder um Verwandte zu besuchen, die kein Gästezimmer haben, um sie
unterzubringen.«
»Oh«, sagte sie. »Und wie ist es mit dem CVJM?«
Mr. Slowik schüttelte den Kopf. »Die haben ihre letzte
Jugendherberge 1990 geschlossen. Sie wurden von Verrückten und Drogensüchtigen überrannt.«
Sie verspürte einen Anflug von Panik, doch dann dachte
sie an die Obdachlosen, die mit den Händen um den geklebten Müllsack mit ihren Habseligkeiten auf dem Boden schlie
fen. Das bleibt mir immer noch, dachte sie.
»Haben Sie einen Vorschlag?« fragte sie.
Er betrachtete sie einen Moment, klopfte mit dem Kugelschreiber an seine Unterlippe, ein kleiner Mann mit durchschnittlichem Gesicht und ein wenig wäßrigen Augen, der
sie trotzdem wahrgenommen und mit ihr gesprochen hatte
und der nicht gesagt hatte, sie solle sich verziehen. Und
selbstverständlich hat er mir nicht gesagt, ich solle mich nach vorne
beugen, damit er mit mir reden kann - aus der Nähe, dachte sie.
Slowik schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
Er machte seine Jacke auf (ein Polyesterjackett von der
Stange, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte), und
holte eine Visitenkarte heraus. Auf der Seite, wo sein Name
und das Symbol von Traveller’s Aid abgebildet waren,
schrieb er sorgfältig eine Adresse. Dann drehte er die Karte
um und unterschrieb auf der leeren Seite mit Buchstaben, die
ihr grotesk groß vorkamen. Angesichts seiner zu groß geratenen Signatur mußte sie an etwas denken, das ihr Geschichtslehrer an der High School der Klasse einmal erzählt
hatte - warum John Hancock seinen Namen mit besonders
großen Buchstaben auf die Unabhängigkeitserklärung
geschrieben hatte. »Damit King George ihn ohne seine Brille
lesen kann«, sollte Hancock gesagt haben.
»Können Sie die Adresse lesen?« fragte er und gab ihr die
Karte.
»Ja«, sagte sie. »251 Durham Avenue.«
»Gut. Stecken Sie die Karte ein und verlieren Sie sie nicht.
Wahrscheinlich wird sie jemand sehen wollen, wenn Sie dort
sind. Ich schicke Sie zu einer Institution namens Daughters
and Sisters. Das ist ein Haus für mißhandelte Frauen. Ziemlich einmalig. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, denke
ich, Sie sind qualifiziert.«
»Wie lange werden sie mich bleiben lassen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, das ist von Fall zu Fall
verschieden.«
DÖS bin ich also jetzt, dachte sie. Ein Fall.
Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er lächelte. Das
Lächeln entblößte unschöne Zähne, schien aber aufrichtig zu
sein. Er tätschelte ihre Hand. Es war eine hastige Bewegung,
linkisch und etwas schüchtern. »Wenn Ihr Mann Sie so
schlimm geschlagen hat, wie Sie sagen, Ms. McClendon,
dann haben Sie Ihre Situation auf jeden Fall verbessert, wo
Sie auch enden.«
»Ja«, sagte sie. »Das glaube ich auch. Und wenn nichts
mehr hilft, bleibt mir immer noch der Fußboden hier, richtig?«
Er sah sie betroffen an. »Oh, ich glaube nicht, daß es soweit
kommen wird.«
»Vielleicht doch. Könnte sein.«
Weitere Kostenlose Bücher