Das Bild
mit Tesa geklebte Müllsäcke aus Plastik gelegt, und als Rosie Kaffee und Saft und
eine Schüssel Special K bekommen hatte, war ihr klar geworden, daß sie sich keine Sorgen hätte machen brauchen, die
Polizisten könnten sie hinauswerfen. Die Schlafenden hier
waren keine Durchreisenden; sie waren Obdachlose, die im
Busbahnhof Unterschlupf gefunden hatten. Sie taten Rosie
leid, aber auf perverse Weise fand sie sie auch tröstlich - es
war gut zu wissen, daß es morgen nacht auch für sie einen
Platz geben würde, wenn sie wirklich einen brauchte.
Und wenn er hierher kommt, in diese Stadt, was meinst du, wo
er zuerst nachsehen wird? Was meinst du, wird seine allererste
Anlauf stelle sein?
Das war albern - er würde sie nicht finden, er konnte sie unmöglich finden -, aber trotzdem strichen eiskalte Finger an
ihrer Wirbelsäule entlang.
Nach dem Essen fühlte sie sich besser, kräftiger und
wacher. Als sie fertig war (sie blieb über der Tasse Kaffee sitzen, bis sie merkte, daß der Hilfskellner, ein Chicano, sie mit
unverhohlener Ungeduld ansah), ging sie langsam in den
Fernsehalkoven zurück. Unterwegs fiel ihr Blick auf einen
blau-weißen Kreis über einer Bude in der Nähe der Autovermietungen mit ihren Kiosks. Um den äußeren blauen Streifen des Kreises herum standen die Worte TRAVELLER’S AID
- HILFE FÜR REISENDE, und Rosie dachte, nicht ohne einen
Anflug von Humor, wenn jemals eine Reisende Hilfe
gebraucht hatte, dann sie.
Sie machte einen Schritt auf den beleuchteten Kreis zu. Im
Inneren der Kabine saß ein Mann, wie sie sah - ein Typ mittleren Alters mit schütterem Haar und einer Hornbrille. Er las
Zeitung. Sie machte noch einen Schritt in seine Richtung,
doch dann blieb sie stehen. Sie wollte doch nicht wirklich
dorthin gehen, oder? Was, um alles in der Welt, wollte sie
ihm sagen? Daß sie ihren Mann verlassen hatte? Daß sie nur
mit ihrer Handtasche, seiner BankCard und den Kleidungsstücken, die sie am Leibe trug, weggegangen war?
Warum nicht? fragte Ms. Praktisch-Vernünftig, und das
völlige Fehlen von Mitgefühl in ihrer Stimme traf Rosie wie
ein Schlag ins Gesicht. Wenn du schon den Mut aufgebracht
hast, ihn zu verlassen, warum bringst du jetzt nicht auch den Mut
auf, es durchzustehen?
Sie wußte nicht, ob das so war, oder nicht, aber sie wußte,
einem Fremden um vier Uhr morgens den wichtigsten Sachverhalt ihres Lebens zu erklären, würde schwierig werden. Wahrscheinlich würde er mir sowieso nur sagen, daß ich mich verziehen soll. Wahrscheinlich besteht seine Aufgabe darin, Leuten zu
helfen, ihre verlorenen Fahrkarten zu ersetzen oder über Lautsprecher die Namen von Kindern durchzusagen, denen die Eltern
abhanden gekommen waren.
Aber ihre Füße trugen sie trotzdem in Richtung der Bude
von Traveller’s Aid, und ihr wurde klar, daß sie doch die
Absicht hatte, sich an den Fremden mit dem schütteren Haar
und der Hornbrille zu wenden, und zwar aus dem einfachsten Grund der Welt: Sie hatte keine andere Wahl. In nächster
Zeit würde sie wahrscheinlich einer Menge Leute erzählen
müssen, daß sie ihren Mann verlassen, daß sie vierzehn Jahre
hinter verschlossenen Türen in einem Zustand der Benommenheit existiert, daß sie verdammt wenig Lebenserfahrung
und keine Ausbildung hatte, daß sie Hilfe brauchte, und daß
sie auf die Güte von Fremden angewiesen war.
Aber das alles ist eigentlich nicht meine Schuld, oder? dachte
sie, und ihre Ruhe erstaunte sie, verblüffte sie fast.
Sie kam zu der Bude und legte die Hand, mit der sie
gerade nicht den Griff der Handtasche umklammert hielt,
auf den Tresen. Sie sah hoffnungsvoll und ängstlich auf den
geneigten Kopf des Mannes mit der Hornbrille hinab und
betrachtete seine sommersprossige Kopfhaut unter den
ordentlich in dünnen Strähnen darübergelegten Haaren. Sie
wartete darauf, daß er aufschauen würde, aber er war völlig
in seine in einer fremden Sprache geschriebenen Zeitung
versunken, die wie Griechisch oder Russisch aussah. Er blätterte vorsichtig eine Seite um und betrachtete stirnrunzelnd
das Bild von zwei Fußballspielern, die um einen Ball kämpften.
»Pardon?« sagte sie mit leiser Stimme, worauf der Mann in
der Bude den Kopf hob.
Bitte, laß seine Augen freundlich sein, dachte sie plötzlich. Auch wenn er nichts tun kann, bitte, laß seine Augen freundlich
sein … und mach, daß er mich sieht, die echte Frau, die hier steht
und nichts hat, außer dem Träger ihrer billigen Supermarkt-Handtasche, woran sie sich festhalten kann.
Weitere Kostenlose Bücher