Das Bild
vorübergleiten,
hatte die Hände fest im Schoß gefaltet und ließ sich von dem
großen silbernen Bus in ihre neue Zukunft bringen.
II
Die Güte von Fremden
1
Sie erlebte eine Menge schlimme Stunden in den ersten
Wochen ihres neuen Lebens, aber selbst in der ziemlich
schlimmsten von allen - als sie um drei Uhr morgens aus
dem Bus ausstieg und eine Schalterhalle betrat, die dreimal
so groß wie Portside war -, bereute sie ihre Entscheidung
nicht.
Aber sie hatte Todesangst.
Rosie stand unter dem Bogen von Tor 62, umklammerte
die Handtasche fest mit beiden Händen und sah sich mit
großen Augen um, während Menschenmassen sich an ihr
vorbeidrängten; manche zogen Koffer hinter sich her, manche balancierten zugebundene Kartons auf den Schultern,
andere hatten einen Arm um die Schultern ihrer Freundin oder die Taille ihres Freunds gelegt. Vor Rosies Augen
lief ein Mann auf eine Frau zu, die gerade aus Rosies Bus
ausgestiegen war, packte sie und wirbelte sie so heftig
herum, daß ihre Füße völlig vom Boden abhoben. Die Frau
kreischte vor Freude und Angst, und ihr Aufschrei hallte
grell wie ein Elektronenblitz durch die überfüllte, chaotische
Halle.
Rechts von Rosie standen eine Reihe Videospiele, und
obwohl es finsterste Nacht war, saßen an allen Kinder - die
meisten hatten die Baseballmützen verkehrt herum aufgesetzt und die Haare an den Seiten abrasiert. »Neuer Versuch,
Weltraumkadett!« forderte die Maschine dicht bei Rosie mit
knirschender Roboterstimme. »Neuer Versuch, Weltraumkadett! Neuer Versuch, Weltraumkadett!«
Sie ging langsam an den Videospielen vorbei in die Schalterhalle und wußte nur eines mit Sicherheit: Sie würde um
diese Zeit nicht wagen, die Halle zu verlassen. Sie dachte
sich, die Chancen standen ausgezeichnet, daß sie vergewaltigt, getötet und in die nächste Mülltonne gesteckt werden
würde, wenn sie es tat. Sie sah nach links und erblickte zwei
uniformierte Polizisten, die auf der Rolltreppe vom oberen
Stockwerk herunterkamen. Einer wirbelte den Schlagstock
in einem komplizierten Muster herum. Der andere grinste
auf eine harte, humorlose Weise, bei der sie an einen Mann
denken mußte, den sie achthundert Meilen hinter sich
zurückgelassen hatte. Er grinste, aber seine rastlosen Augen
grinsten nicht mit.
Wenn ihre Aufgabe nun darin besteht, jede Stunde oder so durch
die Halle zu gehen und jeden hinauszuwerfen, der keine Fahrkarte
hat? Was willst du dann machen?
Darum würde sie sich kümmern, wenn es soweit war; so
würde sie es machen. Vorerst entfernte sie sich von der Rolltreppe und ging zu einem Alkoven, wo ein rundes Dutzend
Reisende auf Hartplastikstühlen saßen. Kleine Münzfernseher waren an den Lehnen dieser Stühle festgeschraubt. Rosie
behielt die Polizisten im Auge und stellte erleichtert fest, daß
sie auf die andere Seite der Schalterhalle gingen, weg von ihr.
In zweieinhalb Stunden, höchstens drei, würde es Tag werden. Danach konnten sie sie schnappen und rauswerfen. Bis
dahin aber wollte sie hier bleiben, im Licht und unter Menschen.
Sie setzte sich auf einen der Fernsehstühle. Zwei Sitze weiter döste ein Mädchen in verblichener Jeansjacke, die einen
Rucksack auf dem Schoß hatte. Ihre Augen kreisten unter
den purpurn geschminkten Lidern, und ein langer, silberner
Speichelfaden hing von ihrer Unterlippe. Vier Worte waren
in verschnörkelten blauen Großbuchstaben auf ihren rechten
Handrücken tätowiert: ICH LIEBE MEINEN SÜSSEN. Wo ist dein Süßer jetzt, Herzblatt? dachte Rosie. Sie betrachtete
den grauen Fernsehschirm, dann die gekachelte Wand rechts
von ihr. Dort hatte jemand mit rotem Leuchtfilzstift die
Worte LUTSCH MEINEN AIDSKRANKEN SCHWANZ hingekritzelt. Sie wandte sich rasch ab, als könnten die Worte ihr
die Netzhäute verbrennen, wenn sie sie zu lange ansah, und
ließ den Blick durch die Schalterhalle schweifen. An der
Wand gegenüber hing eine große, beleuchtete Uhr. Es war
3:16Uhr.
Zweieinhalb Stunden, und ich kann gehen, dachte sie, und
wartete.
2
Sie hatte eine Limonade getrunken und einen Hamburger
gegessen, als der Bus vergangenen Nachmittag gegen sechs
Rast gemacht hatte, seitdem nichts mehr, und sie war hungrig. Sie saß in dem Fernsehalkoven, bis die Zeiger der großen
Uhr auf vier vorgerückt waren, dann beschloß sie, einen
Happen zu sich zu nehmen. Sie ging zu der kleinen Cafeteria
neben dem Fahrkartenschalter, wobei sie unterwegs über
mehrere schlafende Gestalten steigen mußte. Viele hatten die
Arme beschützend um ausgebeulte,
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