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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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erzählt hatte, nicht einmal
ihrer Therapeutin, den notwendigen Tagtraum, den sie sich
für schreckliche Tage wie diesen aufsparte. Darin war sie auf
dem Umschlag des Magazins Time abgebildet. Es war kein
Foto, sondern ein leuchtendes Ölgemälde, das sie in einem
dunkelblauen Hängekleid zeigte (blau stand ihr am besten,
und ein Hängekleid würde verbergen, wie deprimierend
sie in den letzten zwei oder drei Jahren um die Taille zugenommen hatte). Sie sah über die linke Schulter und präsentierte dem Künstler ihre Schokoladenseite, und ihr Haar fiel
wie ein Wasserfall über ihre rechte Schulter. Ein sexy Wasserfall.
    Die Bildunterschrift lautete schlicht: AMERIKANISCHE
ERLÖSERIN.
Sie bog in die Einfahrt ein und verdrängte den Tagtraum
widerwillig (sie war gerade zu der Stelle gekommen, wo die
Verfasserin schrieb: »Obwohl sie das Leben von fünfzehnhundert mißhandelten Frauen wieder lebenswert gemacht
hat, ist Anna Stevenson überraschend, sogar rührend bescheiden geblieben …«). Sie machte den Motor des Infiniti
aus, blieb einen Moment sitzen und rieb sich sanft die Haut
unter den Augen.
Peter Slowik, den sie zum Zeitpunkt ihrer Scheidung für
gewöhnlich Peter den Großen oder Rasputin den irren Marxisten genannt hatte, war im Leben ein wilder Schwätzer
gewesen, und seine Freunde schienen entschlossen gewesen
zu sein, seiner im nämlichen Geist zu gedenken. Die Ansprachen hatten sich endlos in die Länge gezogen, und jedes
»Gedächtnisbouquet« (Anna hätte die politisch korrekten
Armleuchter, die ihre Zeit damit verbrachten, sich derart
alberne Ausdrücke auszudenken, fröhlich mit dem Maschinengewehr niedermähen können) schien länger als das vorhergehende zu sein, und um sechzehn Uhr, als sie endlich
aufgestanden waren, um zu essen und den Wein zu trinken ein grauenhaftes Gesöff, das Peter mit Sicherheit auch gekauft hätte, wäre er dafür zuständig gewesen -, war sie überzeugt, daß sich die Form des Klappstuhls, auf dem sie saß, in
ihren Arsch eintätowiert haben mußte. Aber sie war nie auf
den Gedanken gekommen, früher zu gehen
- sich nach
einem Sandwich und einem Schluck Wein einfach davonzuschleichen. Die Leute würden zusehen und beobachten, wie
sie sich verhielt. Immerhin war sie Anna Stevenson, eine
bedeutende Frau in der politischen Hierarchie dieser Stadt,
und sie mußte mit verschiedenen Leuten sprechen, nachdem
der offizielle Teil zu Ende war. Leute, mit denen sie von anderen Leuten im Gespräch gesehen werden wollte, denn so
drehte sich das Karussell.
Und um alles noch spaßiger zu machen, hatte ihr Piepser
innerhalb von fünfundvierzig Minuten dreimal losgelegt. Wochen vergingen, in denen das Ding stumm in ihrer Handtasche lag, aber heute nachmittag, während einer Veranstaltung mit langen Schweigepausen, unterbrochen von Leuten,
die außerstande zu sein schienen, mehr als ein tränenersticktes Murmeln von sich zu geben, hatte das Gerät verrückt
gespielt. Nach dem drittenmal hatte sie es satt, daß sich alle
Köpfe nach ihr umdrehten, und das verfluchte Ding abgeschaltet. Sie hoffte, daß niemand beim Picknick die Wehen,
daß kein Kind ein Hufeisen an den Kopf bekommen hatte,
und am meisten, daß Rosies Mann nicht aufgetaucht war.
Daß er das getan hatte, bezweifelte sie freilich; er würde sich
hüten. Wie dem auch sei, wer sich über ihren Piepser meldete, hätte auf jeden Fall zuerst bei D & S angerufen, und der
Anrufbeantworter in ihrem Büro wäre ihre erste Anlauf stelle
gewesen. Sie könnte die Nachrichten abhören, während sie pinkeln ging. In den meisten Fällen würde das ausreichen.
Sie stieg aus dem Auto aus, schloß es ab (selbst in einer
guten Wohngegend wie dieser konnte man nicht vorsichtig
genug sein) und ging die Verandastufen hinauf. Sie öffnete
mit ihrer elektronischen Karte, brachte das Piep-piep-piep der
Alarmanlage zum Schweigen, ohne darüber nachzudenken;
angenehme Fetzen ihres Tagtraums
(einzige Frau ihrer Zeit, die von allen Fraktionen der zunehmend zersplitterten Frauenbewegung geliebt und respektiert
wird)
gingen ihr immer noch durch den Kopf.
»Hallo, Haus!« rief sie und ging den Flur entlang.
Schweigen antwortete ihr, wie sie erwartet … und, seien
wir ehrlich, auch gehofft hatte. Mit etwas Glück blieben ihr
zwei oder gar drei gesegnete Stunden der Ruhe, bevor das
abendliche Kichern, Prasseln von Duschen, Türenschlagen
und Gackern der Fernsehkomödien anfing.
Sie ging in die Küche und fragte sich, ob ein langes, entspannendes Schaumbad

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