Das Bild
versilberte Beine vor sich zum Stillstand
kommen. Rosie wandte den Blick nach rechts und sah Bill,
der vollkommen reglos neben ihr saß und seine gefalteten
Hände so konzentriert betrachtete wie ein Zen-Schüler, der
bei der morgendlichen Meditation neben dem Meister sitzen
darf.
Schließlich sagte sie schüchtern, ohne aufzuschauen:
»Dorcas hat mir gegeben, was Sie mir zukommen lassen
wollten. Es ist in meiner Tasche.«
»Gut«, antwortete die angenehme, etwas heisere Stimme.
»Das ist gut, Rosie Richtig.« Eine fleckige Hand tauchte in
Rosies Gesichtskreis auf und warf ihr etwas in den Schoß. Im
blassen Licht sah sie kurz Gold aufblitzen. »Für dich«, sagte
Rose Madder. »Ein Souvenir, wenn du willst. Du kannst ganz
nach Gutdünken damit verfahren.«
Rosie nahm das Ding in die Hand und betrachtete es staunend. Die gravierten Worte Hilfsbereitschaft, Loyalität, Kameradschaft bildeten ein Dreieck um den Stein, einen runden
Obsidian. Dieser war nun von einem scharlachroten Fleck
gezeichnet. Er verwandelte den Stein in ein haßerfülltes,
wachsames Auge.
Das Schweigen zog sich in die Länge und bekam etwas
Erwartungsvolles. Will sie, daß ich mich bedanke, fragte sich
Rosie. Das würde sie nicht tun … aber sie würde ihr sagen,
was sie empfand. »Ich bin froh, daß er tot ist«, sagte sie leise
und ohne Nachdruck. »Es ist eine Erleichterung.«
»Natürlich bist du froh, und natürlich ist es eine Erleichterung. Du kannst jetzt mit diesem Tier dort in deine Rosie Richtig-Welt zurückkehren. Soweit ich das beurteilen kann,
ist er gut.« Eine Andeutung von etwas - Rosie wollte sich
nicht eingestehen, daß es Lüsternheit war - stahl sich in die
Stimme der anderen. »Gute Flanken.« Eine Pause. »Gute
Lenden.« Wieder eine Pause, dann strich sie Bill mit einer
ihrer fleckigen Hände über den Kopf und zerzauste sein wirres, verschwitztes Haar. Er hielt den Atem an, als sie ihn
berührte, sah aber nicht auf. »Ein gutes Tier. Beschütze ihn,
dann wird er dich beschützen.«
Da sah Rosie auf. Sie hatte schreckliche Angst davor, was
sie sehen könnte, aber sie konnte nicht anders. »Nennen Sie
ihn nie. wieder ein Tier«, sagte sie mit vor Wut bebender
Stimme. »Und nehmen Sie Ihre verseuchte Hand von ihm.«
Sie sah, wie Dorcas erschrocken zusammenzuckte, aber
nur aus dem Augenwinkel. Ihr Hauptaugenmerk galt Rose
Madder. Was hatte sie von dem Gesicht erwartet? Nun, wo
sie es im schwindenden Mondschein sah, konnte sie es nicht
genau sagen. Möglicherweise die Medusa. Eine der drei Gorgonen. Die Frau vor ihr war nicht so. Einmal (und das war
noch gar nicht so lange her, dachte Rosie) war ihr Gesicht von
außergewöhnlicher Schönheit gewesen, ein Antlitz, das sich
mit dem der schönen Helena messen konnte. Nun waren ihre
einst makellosen Züge abgehärmt und verschwammen allmählich. Einer der dunklen Flecken wucherte über ihre
Wange und die Stirn wie die Unterseite eines Starenflügels.
Das stechende Auge, das aus diesem Schatten herausschaute, war wütend und melancholisch zugleich. Es war
nicht das Gesicht, das Norman gesehen hatte, soviel stand
fest, aber sie konnte dieses Gesicht darunter erahnen - in
gewisser Weise war es, als hätte sie dieses hier nur Rosies
wegen aufgetragen, wie Make-up -, und das erfüllte sie mit
einem Gefühl von Kälte und Übelkeit. Unter der Schönheit
lag Wahnsinn … aber nicht nur Wahnsinn.
Rosie dachte: Es ist die Tollwut - die Tollwut frißt sie auf, ihre
Gestalt und ihre Magie und ihren Zauber hat sie nur noch mühsam
unter Kontrolle, bald wird sie völlig zusammenbrechen, und wenn
ich jetzt den Blick von ihr abwende, wird sie wahrscheinlich über
mich herfallen und das mit mir anstellen, was sie mit Norman
gemacht hat. Später wird es ihr vielleicht leid tun, aber dann ist
nichts mehr zu ändern, oder?
Rose Madder streckte wieder die Hand aus, aber diesmal
berührte sie Rosies Kopf - zuerst die Stirn, dann das Haar,
das einen langen Tag hinter sich hatte: Der Zopf war in Auflösung begriffen.
»Du bist tapfer, Rosie. Du hast beherzt für deinen … deinen Freund gekämpft. Du bist mutig und hast ein gutes
Herz. Aber darf ich dir einen Rat mit auf den Weg geben,
bevor ich dich zurückschicke?«
Sie lächelte, wahrscheinlich um ermutigend auszusehen,
aber Rosie blieb dennoch einen Moment das Herz stehen,
bevor es wie rasend weiterklopfte. Als Rose Madder die Lippen öffnete, konnte man ein Loch in ihrem Gesicht sehen, das
keinerlei Ähnlichkeit mit einem Mund hatte, und sie
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