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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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das Gesicht einer Spinne, von
Gier und irrer Intelligenz verzerrt. Der offene Mund ließ eine
abstoßende Dunkelheit erkennen, in der seidige Tentakel wallten, an denen Hunderte Insekten und Käfer festklebten, manche tot, manche sterbend. Die Augen waren große, blutende Eier
von dunkelroter Farbe, die wie lebender Glibber in den Höhlen
pulsierten.
»Komm noch näher, Norman«, flüsterte die Spinne im Mondschein, und bevor sein Verstand endgültig brach, sah Norman, daß
der Mund mit seinen Tentakeln und Insekten zu grinsen versuchte.
Weitere Arme bahnten sich einen Weg durch die Armöffnungen
der Toga, und auch unter dem kurzen Rock hervor, aber es waren keine Arme, in Wirklichkeit waren es keine Arme, und er schrie
und schrie und schrie; schreiend bat er um die Gnade des Vergessens, damit er nichts mehr wissen und sehen mußte, aber das Vergessen wollte nicht kommen.
»Komm näher«, gurrte sie, streckte die Nicht-Arme nach ihm
aus und öffnete das klaffende Maul. »Ich will mit dir reden.« Klauen befanden sich an den Enden der schwarzen Nicht-Arme,
und sie waren mit Borsten besetzt. Die Klauen berührten seine
Handgelenke, seine Beine, das geschwollene Anhängsel, das noch
zwischen seinen Beinen pochte. Eine wand sich liebevoll in seinen Mund; die Borsten glitten über seine Zähne und die Innenseiten der Wangen. Sie ergriff seine Zunge, riß sie heraus und
schwenkte sie triumphierend vor seinem ungläubig starrenden
Auge. »Ich will mit dir reden, und zwar … aus der …
NÄHE!«
Er unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, sich loszureißen, und wurde statt dessen in die gierige Umarmung von Rose
Madder gezogen.
Wo Norman endlich lernte, was es hieß, der Gebissene zu sein,
und nicht der Beißende.
12
    Rosie lag auf der Treppe, hatte die Augen geschlossen, die
Fäuste an den Kopf gedrückt und hörte seine Schreie. Sie versuchte nicht einmal, sich vorzustellen, was da draußen los
war, und sie versuchte, daran zu denken, daß es Norman war,
der dort schrie, Norman mit dem gräßlichen Bleistift, Norman mit dem Tennisschläger, Norman mit den Zähnen.
    Doch das alles ging im Grauen seiner Schreie unter, seiner
gequälten Schreie, als Rose Madder …
… als Rose Madder tat, was immer sie tat.
Nach einer gewissen Zeit - einer langen Zeit - verstummten die Schreie. Rosie blieb liegen, wo sie war, entkrampfte
langsam die Fäuste, ließ die Augen aber fest zugekniffen und
saugte mit kurzen, abgehackten Zügen Luft in die Lunge. Sie
wäre vielleicht noch Stunden dort liegen geblieben, hätte die
angenehme, irre Stimme der Frau sie nicht gerufen:
»Komm hervor, kleine Rosie! Komm hervor und sei guten
Mutes! Der Stier ist nicht mehr!«
Langsam kam Rosie mit Beinen, die sich taub und hölzern
anfühlten, zuerst auf die Knie und dann auf die Füße. Sie
ging die Stufen hinauf und blieb stehen. Sie wollte nicht hinsehen, aber ihre Augen schienen ein Eigenleben zu entwickeln; sie sahen über die Lichtung, während ihr der Atem
in der Kehle stockte.
Sie stieß einen langen, leisen Seufzer der Erleichterung
aus. Rose Madder kniete immer noch mit dem Rücken zu
ihr. Vor ihr im Schatten lag ein Bündel, das zuerst wie Lumpen aussah. Dann kullerte eine weiße Seesterngestalt aus
den Schatten ins Mondlicht. Es war eine Hand, und da sah
Rosie den Rest von ihm, wie eine Frau, die plötzlich Sinn
und Zusammenhang im Tintenklecks eines Psychiaters entdeckt. Es war Norman. Er war verstümmelt, und sein verbliebenes Auge quoll in einem endgültigen Ausdruck völligen Entsetzens aus seiner Höhle, aber es war zweifellos
Norman.
Rose Madder streckte vor Rosies Augen einen Arm in die
Höhe und pflückte eine Frucht von dem Baum. Sie zerquetschte sie mit der Hand - einer ausgesprochen menschlichen Hand, und anmutig obendrein, abgesehen von den
schwarzen geisterhaften Flecken, die unmittelbar unter ihrer
Haut schwebten -, so daß zuerst der dunkelrote Saft zwischen ihren Fingern herausquoll, und dann die Frucht selbst
als tiefrote, feuchte Masse aufplatzte. Sie pulte ein rundes
Dutzend Samenkerne aus dem Fruchtfleisch und pflanzte sie
in Norman Daniels’ verstümmelten Leib. Den letzten bohrte
sie ihm in das glotzende Auge. Ein nasses Flopp ertönte, als
sie ihn hineinstieß, als wäre jemand auf eine pralle Traube
getreten.
»Was machen Sie da?« konnte Rosie nicht umhin zu fragen.
Sie konnte gerade noch verhindern, daß sie hinzufügte: Drehen Sie sich nicht um, Sie können es mir sagen, ohne sich umzudrehen!
»Ich

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