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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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waren nur ein Aspekt
dieser neuen Perspektive. »Es spielt keine Rolle, so lange ich
den Baum nicht vergesse«, sagte sie und merkte nicht einmal, daß sie es laut ausgesprochen hatte.
Das Telefon am anderen Ende wurde nach nur einem Läuten abgenommen. »Hallo, 911, dieser Anruf wird aufgezeichnet.«
»Ja, das denke ich mir. Mein Name ist Rosie McClendon,
ich wohne 897 Trenton Street, erster Stock. Mein Nachbar
von oben braucht einen Krankenwagen.«
»Ma’am, könnten Sie mir die Art seiner -«
Das konnte sie, konnte sie mit ziemlicher Sicherheit, aber
dann fiel ihr noch etwas ein, das ihr erst in diesem Moment
klargeworden war und auf der Stelle erledigt werden mußte.
Sie legte den Hörer wieder auf und steckte die beiden ersten
Finger ihrer rechten Hand in die Uhrentasche der Jeans.
Diese kleine Tasche war manchmal praktisch, aber auch ein
Ärgernis - ein weiteres sichtbares Zeichen der halbwegs
unbewußten Vorurteile, die die Welt gegen Linkshänder wie
sie hegte. Sie lebte in einer Welt, die, das war ein allgemeiner
Grundsatz, von Rechtshändern für Rechtshänder gemacht
wurde, und darum war sie voll von ähnlichen kleinen Unbequemlichkeiten. Aber das machte nichts; als Linkshänder
lernte man eben, damit zu leben, so einfach war das. Und das
ließ sich machen, dachte Rosie. Wie es in dem alten Song von
Bob Dylan über den Highway 61 hieß, o ja, it could be very
easily done - es ließ sich ganz leicht machen.
Sie fischte die winzige Keramikflasche heraus, die Dorcas
ihr gegeben hatte, sah sie zwei oder drei Sekunden starr an,
legte den Kopf schief und horchte zur Tür. Jemand anders
war zu der Gruppe am Ende des Flurs gestoßen, und der
Mann, der angeschossen worden war (jedenfalls vermutete
Rosie, daß es sich um ihn handelte), redete mit einer abgehackten, weinerlichen Stimme auf sie ein. In der Ferne
konnte Rosie Sirenen hören, die näherkamen.
Sie ging in die Kochnische und öffnete den winzigen Kühlschrank. Eine Packung Schinken stand darin, von der noch
drei oder vier Scheiben übrig waren, ein Beutel Milch, zwei
Becher Joghurt, ein Krug Saft und drei Flaschen Pepsi. Von
den letzteren nahm sie eine heraus, schraubte den Verschluß
auf und stellte sie auf den Tresen. Sie warf noch einen
raschen Blick über die Schulter und rechnete halb damit, Bill
im Türrahmen stehen zu sehen (Was machst du da? würde er
fragen. Was braust du da zusammen?). Aber es war niemand an
der Tür, und sie konnte ihn am Ende des Flurs hören, wo er
mit der ruhigen, besonnenen Stimme sprach, die sie schon so
sehr liebte.
Mit den Fingernägeln zog sie den winzigen Kork aus dem
Fläschchen. Dann hielt sie es hoch und schwenkte es unter
der Nase wie eine Frau, die an einem Parfumflakon schnuppert. Sie roch kein Parfüm, erkannte das Aroma - bitter,
metallisch, und doch seltsam attraktiv
- aber trotzdem
sofort. Das kleine Fläschchen enthielt Wasser aus dem Bach,
der hinter dem Tempel des Stiers verlief.
Dorcas: Ein Tropfen. Für ihn. Danach.
Ja, nur einer; mehr wäre gefährlich, aber einer würde
wahrscheinlich genügen. Alle Fragen und alle Erinnerungen - das Mondlicht, Normans schreckliche Schmerzensund Angstschreie, die Frau, die er nicht ansehen durfte würden dahin sein. Ebenso ihre Befürchtung, daß diese
Erinnerungen wie ätzende Säure an seinem Geisteszustand
und ihrer zarten Beziehung fressen könnten. Das freilich
könnte sich als unbegründete Befürchtung erweisen
- der
menschliche Verstand war zäher und anpassungsfähiger, als
die meisten Menschen für möglich hielten, das immerhin
hatten sie vierzehn Jahre an Normans Seite gelehrt, aber
wollte sie das Risiko wirklich eingehen? Wollte sie es eingehen, wo sich doch alles auch genau andersrum entwickeln
könnte? Was war gefährlicher, seine Erinnerungen oder
diese flüssige Amnesie?
Sei vorsichtig, Mädchen. Das ist gefährliches Zeug.
Rosies Blick schweifte von dem Fläschchen zum Spülbecken und langsam wieder zurück.
    Rose Madder: Ein gutes Tier. Beschütze ihn, dann wird er dich
beschützen.
Rosie dachte sic h, daß der Ausdruck verächtlich und
falsch sein mochte, der Gedanke jedoch richtig. Langsam,
vorsichtig, neigte sie das Keramikfläschchen über die Pepsiflasche und ließ einen einzigen Tropfen hineinfallen.
Hing.
Und jetzt schütte den Rest in den Ausguß, rasch,
Sie wollte es tun, aber dann fiel ihr ein, was Dorcas noch
gesagt hatte: Ich hätte dir weniger geben können, aber vielleicht
braucht er später noch einen Tropfen.
Ja, und was ist mit

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