Das Bild
sah
nicht einmal mehr entfernt menschenähnlich aus. Ihr Mund
war das Maul einer Spinne, dafür geschaffen, Insekten zu
verschlingen, die nicht richtig tot waren, sondern nur
betäubt.
»Gewiß.« Rosies Lippen fühlten sich taub an, als würden
sie nicht zu ihr gehören.
Die fleckige Hand strich sanft über Rosies Schläfe. Das
Spinnenmaul grinste. Die Augen funkelten.
»Wasch dir die Tönung aus dem Haar«, flüsterte Rose
Madder. »Du bist nicht zur Blondine bestimmt.«
Sie sahen einander in die Augen und hielten Blickkontakt.
Rosie stellte fest, daß sie nicht wegsehen konnte; sie hing
gebannt am Gesicht der anderen Frau. Aus dem Augenwinkel sah sie Bill, der verbissen seine Hände betrachtete. Auf
seinen Wangen und seiner Stirn glänzte Schweiß.
Rose Madder wandte sich zuerst ab. »Dorcas.«
»Ma’am?«
»Das Baby -?«
»- ist bereit, wenn Sie es sind.«
»Gut«, sagte Rose Madder. »Ich brenne darauf, es zu
sehen, und es wird Zeit, daß wir weiterziehen. Auch für dich
wird es Zeit, Rosie Richtig. Für dich und deinen Mann. Siehst
du, ich kann ihn so nennen. Deinen Mann, deinen Mann. Aber bevor du gehst…«
Rose Madder breitete die Arme aus.
Langsam, fast hypnotisiert, stand Rosie auf und ließ sich
umarmen. Die dunklen Flecken in Rose Madders Fleisch
waren heiß und fiebrig - Rosie bildete sich ein, daß sie sie
fast unter ihrer eigenen Haut zucken spüren konnte. Ansonsten war die Frau in dem Chiton - in dem Zat kalt wie ein
Leichnam.
Aber Rosie hatte keine Angst mehr.
Rose Madder gab ihr einen Kuß auf die Wange, ganz hoch
oben, und flüsterte: »Ich liebe dich, kleine Rosie. Ich
wünschte, wir hätten uns zu einer anderen Zeit kennengelernt, wenn du mich in einem besseren Licht hättest sehen
können, aber wir haben uns geschlagen, so gut wir konnten.
Unser Zusammentreffen stand unter einem guten Stern. Und
vergiß nicht den Baum.«
»Was für einen Baum?« fragte Rosie aufgeregt. »Was für
einen Baum?« Aber Rose Madder schüttelte endgültig und
unwiderruflich den Kopf, wich zurück und löste ihre Umarmung. Rosie warf einen letzten Blick in das beängstigende,
mißgestaltete Gesicht und mußte wieder an die Füchsin und
ihre Jungen denken.
»Bin ich du?« flüsterte sie. »Sag mir die Wahrheit, Rose
Madder - bin ich du?«
Rose Madder lächelte. Es war nur ein kurzes Lächeln, aber
einen Augenblick sah Rosie ein Monster darin, und erschauerte.
»Das ist unwichtig, kleine Rosie. Ich bin zu alt und krank,
um mich mit derlei Fragen zu befassen. Philosophie ist die
Domäne der Gesunden. Wenn du den Baum nicht vergißt,
wird es sowieso keine Rolle spielen.«
»Ich verstehe nicht -«
»Psssst!« Sie legte einen Finger an die Lippen. »Dreh dich
um, Rosie. Dreh dich um und seh nichts mehr. Das Stück ist
zu Ende.«
Rosie drehte sich um, legte die Hände auf die von Bill (er
hatte die Finger immer noch fest ineinander verschränkt)
und zog ihn auf die Füße. Wieder war die Staffelei verschwunden, und das Bild, das darauf gestanden hatte - ihr
Apartment bei Nacht, gleichgültig in trüben Ölfarben hingemalt - war zu enormer Größe angewachsen. Wieder war es
kein Bild mehr, sondern ein Fenster. Rosie ging darauf zu,
weil sie darauf brannte, hindurchzugehen und diese rätselhafte Welt für immer hinter sich zu lassen. Bill hielt sie auf,
indem er an ihrem Handgelenk zog. Er drehte sich um und
sprach Rose Madder an, ohne sie weiter als bis in Brusthöhe
anzusehen.
»Danke, daß Sie uns geholfen haben«, sagte er.
»Gern geschehen«, sagte Rose Madder gelassen. »Vergelte
es mir, indem du sie gut behandelst.«
Ich vergelte, dachte Rosie und erschauerte wieder.
»Komm mit«, sagte sie und zog Bill an der Hand. »Bitte,
laß uns gehen.«
Aber er zögerte noch einen Moment. »Ja«, sagte er. »Ich
werde sie gut behandeln. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was mit Leuten passiert, die das nicht tun. Wahrscheinlich besser, als mir lieb ist.«
»Er ist so ein hübscher Mann«, sagte Rose Madder nachdenklich, und dann veränderte sich ihr Tonfall - er wurde
erregt, fast aufgewühlt. »Nimm ihn mit, so lange du es noch
kannst, Rosie Richtig! Nimm ihn mit, so lange du es noch
kannst!«
»Geht!« rief Dorcas. »Verschwindet, ihr beiden, und zwar auf der Stelle!«
»Aber gib mir, was mir gehört, bevor du gehstl« kreischte Rose
Madder. Ihre Stimme klang schrill und unheimlich. »Gib es
mir, du Miststückl« Etwas - kein Arm, es war zu dünn und
gelenkig für einen Arm - peitschte im Mondschein und glitt
über die wie
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