Das Bild
Danach.«
Rosie nickte, als wüßte sie genau, wovon Dorcas sprach.
Auf diese Weise war es einfacher. Es gab Fragen, die sie stellen könnte, wahrscheinlich stellen sollte, aber sie war einfach
zu müde, sie zu formulieren.
»Ich hätte dir weniger geben können, aber vielleicht
braucht er später noch einen Tropfen. Aber sei vorsichtig,
Mädchen. Das ist gefährliches Zeug.«
Als ob etwas in dieser Welt ungefährlich wäre, dachte Rosie.
»Steck es jetzt weg«, sagte Dorcas und sah zu, wie Rosie
das winzige Fläschchen in die Uhrentasche ihrer Jeans
steckte. »Und vergiß nicht, kein Wort davon zu ihm.« Sie
nickte mit dem Kopf in Bills Richtung, dann zu Rosie zurück,
und ihr dunkles Gesicht war grimmig. In der Dunkelheit
sahen ihre Augen vorübergehend aus, als hätte sie keine
Pupillen, wie die Augen einer griechischen Statue. »Und du
weißt auch, warum, oder nicht?«
»Ja«, sagte Rosie. »Das ist Frauensache.«
Dorcas nickte. »Ganz recht, genau das ist es.«
»Frauensache«, wiederholte Rosie und hörte im Geiste
Rose Madder sagen: Vergiß nicht den Baum.
Sie machte die Augen zu.
2
Sie saßen eine ganze Zeit zu dritt auf dem Hügel, Bill und
Rosie eng umschlungen nebeneinander, Dorcas ein Stück
entfernt bei dem Pferd, das immer noch verschlafen graste.
Das Pferd sah immer wieder zu der schwarzen Frau hin, als
wäre es neugierig, warum so viele Leute zu dieser ungewohnten Stunde auf waren, aber Dorcas achtete nicht darauf,
sondern saß nur mit um die Knie geschlungenen Armen da
und sah sehnsüchtig zum untergehenden Mond hinauf. Für
Rosie sah sie wie eine Frau aus, die über die vielen Entscheidungen ihres Lebens nachdenkt und zu dem Ergebnis
kommt, daß die falschen die richtigen überwiegen … und
nicht nur um einige wenige. Bill machte mehrmals den
Mund auf, um etwas zu sagen, und Rosie sah ihn jedesmal
ermunternd an, aber er machte ihn immer wieder zu, ohne
ein Wort herauszubringen.
Als der Mond gerade die Bäume links von dem verfalle nen Tempel berührte, hob das Pferd wieder den Kopf, und
diesmal stieß es ein tiefes, erfreutes Wiehern aus. Rosie
schaute den Hügel hinab und sah Rose Madder kommen.
Kräftige, wohlgeformte Schenkel waren im blassen Licht des
untergehenden Monds zu sehen. Ihr Zopf schwang von einer
Seite auf die andere wie das Pendel einer Standuhr.
Dorcas stieß ein leises, zufriedenes Grunzen aus und stand
auf. Rosie selbst verspürte eine seltsame Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Sie legte eine Hand auf Bills Unterarm und sah ihn ernst an. »Sieh sie nicht an«, sagte sie.
»Nein«, stimmte Dorcas zu, »und stell keine Fragen, Billy,
nicht mal, wenn sie dich dazu auffordert.«
Er sah unsicher von Dorcas zu Rosie, dann wieder zu Dorcas. »Warum nicht? Wer ist sie überhaupt? Die Maikönigin?«
»Sie ist Königin von allem, wovon sie Königin sein will«,
sagte Dorcas, »und das solltest du nicht vergessen. Schau sie
nicht an, und tu nichts, was sie verärgern könnte. Mehr kann
ich nicht sagen; keine Zeit. Leg die Hände in den Schoß, junger Mann, und guck da drauf. Guck nur deine Hände an.«
»Aber -«
»Wenn du sie ansiehst, verlierst du den Verstand«, sagte
Rosie nur. Sie sah zu Dorcas, die nickte.
»Dies ist ein Traum, oder nicht ?« fragte Bill. »Ich meine …
ich bin nicht tot, oder? Denn wenn dies das Leben nach dem
Tod ist, würde ich lieber drauf verzichten.« Er sah an der
Frau vorbei, die zu ihnen kam, und erschauerte. »Zu laut. Zu
viel Geschrei.«
»Es ist ein Traum«, stimmte Rosie zu. Rose Madder war
jetzt sehr nahe, eine schlanke, aufrechte Gestalt, die durch
Streifen von Licht und Schatten schritt. Letztere verwandelten ihr gefährliches Gesicht in die Maske einer Katze … oder
einer Füchsin. »Es ist ein Traum, in dem du genau das tun
mußt, was wir dir sagen.«
»Rosie and Dorcas says, statt Simon says.«
»Ja. Und Dorcas >sagt<, leg die Hände in den Schoß und
sieh sie an, bis eine von uns dir sagt, daß du damit aufhören
kannst.«
»Darf ich?« fragte er und warf ihr einen verschmitzten
Blick unter halbgeschlossenen Lidern zu, den sie in Wirklichkeit für einen Ausdruck benommener Verwirrung hielt.
»Ja«, sagte Rosie verzweifelt. »Ja-du-darfst, aber um Gottes willen, schau sie nicht an!«
Er verschränkte die Finger und senkte gehorsam den
Blick.
Nun konnte Rosie das Tapsen näherkommender Schritte
hören, das seidige Rascheln von Gras auf Haut. Sie senkte
ebenfalls den Blick. Einen Moment später sah sie zwei bloße,
vom Mondlicht
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