Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
freien Hand die Wangen ab. »Es tut mir leid, aber
ich bin allein und fremd in der Stadt, ich kenne niemanden,
und brauche eine Bleibe. Wenn Sie belegt sind, würde ich das
verstehen, aber könnte ich wenigstens einen Moment reinkommen und ein Glas Wasser trinken?«
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. Rosie streckte
wieder die Hand nach dem Knopf aus, als die blecherne
Stimme fragte, wer sie geschickt habe.
    »Der Mann in der Bude von Traveller’s Aid am Busbahnhof. David Slowik.« Sie dachte nach, dann schüttelte sie den
Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Peter. Sein Name war Peter,
nicht David.«
»Hat er Ihnen eine Karte gegeben?« fragte die blecherne
    Stimme.
»Ja.«
»Bitte suchen Sie sie.«
Sie klappte die Handtasche auf und kramte scheinbar
    stundenlang darin herum. Gerade als frische Tränen in ihren
Augen brannten und ihren Blick verschwimmen ließen, fand
sie die Karte. Sie war unter einem Kleenex versteckt gewesen.
    »Ich hab sie«, sagte sie. »Soll ich sie durch den Briefschlitz
schieben?«
»Nein«, sagte die Stimme. »Direkt über Ihrem Kopf ist eine
Kamera.«
Sie sah erstaunt auf. Tatsächlich sah sie eine über der Tür
montierte Kamera, die mit ihrem runden schwarzen Auge
auf sie heruntersah.
»Bitte halten Sie sie vor die Kamera. Nicht die Vorder-, sondern die Rückseite.«
Als sie das tat, fiel ihr ein, wie Slowik die Visitenkarte
unterschrieben hatte, die Unterschrift so groß er sie nur
machen konnte. Jetzt kannte Rosie den Grund dafür.
»Okay«, sagte die Stimme. »Ich laß Sie rein.«
»Danke«, sagte Rosie. Sie wischte sich mit dem Kleenex die
Wangen ab, aber es half nichts; sie weinte heftiger denn je
und schien einfach nicht aufhören zu können.
7
    An diesem Abend, als Norman Daniels in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa lag, zur Decke hinaufstarrte und bereits
überlegte, wie er es anfangen könnte, das Miststück zu finden (ein Anhaltspunkt, dachte er, ich brauche einen Anhaltspunkt, auf dem ich aufbauen kann, ein klitzekleiner würde genügen), wurde seine Frau in das Büro von Anna Stevenson
geführt. Inzwischen verspürte Rosie eine seltsame, aber
höchst willkommene Ruhe - die Art von Ruhe, die man in
einem altbekannten Traum verspürt. Sie war halb davon
überzeugt, daß sie träumte.
    Sie hatte ein spätes Frühstück - oder ein frühes Mittagessen - bekommen, anschließend war sie in eines der Zimmer im Erdgeschoß geführt worden, wo sie sechs Stunden
wie eine Tote geschlafen hatte. Bevor man sie in Annas Büro
brachte, hatte sie noch mal etwas zu essen bekommen - Brathuhn, Kartoffelpüree, Erbsen. Sie hatte schuldbewußt, aber
herzhaft zugelangt, aber das Gefühl nicht abschütteln können, daß sie Traumessen ohne den geringsten Nährwert zu
sich nahm. Als Dessert gab es eine Schale Götterspeise, in der
Stücke von Dosenfrüchten schwebten wie Insekten in Bernstein. Sie merkte, daß die anderen Frauen am Tisch sie ansahen, aber ihre Neugier schien freundlicher Natur zu sein. Sie
unterhielten sich miteinander, aber Rosie konnte ihrer Unterhaltung nicht folgen. Jemand erwähnte die Indigo Girls, und
immerhin wußte sie, wer die waren - sie hatte sie einmal in Austin City Limits gesehen, während sie darauf wartete, daß
Norman von der Arbeit nach Hause kam.
    Als sie bei der Götterspeise angelangt waren, legte eine der
Frauen eine Platte von Little Richard auf, zu der zwei andere
Frauen »mit kreisenden Hüftschwüngen Jitterbug tanzten.
Gelächter und Beifall ertönten. Rosie betrachtete die Tänzerinnen mit einem lethargischen Desinteresse und fragte sich,
ob das Wohlfahrtslesben waren. Später, als der Tisch abgeräumt wurde, wollte Rosie helfen, aber sie ließen sie nicht.
    »Komm mit«, sagte eine der Frauen; Rosie glaubte, daß ihr
Name Consuela war. Eine breite Narbe, die unter dem Auge
begann, entstellte ihre linke Gesichtshälfte. »Anna möchte
dich kennenlernen.«
    »Wer ist Anna?«
»Anna Stevenson«, sagte Consuela, während sie Rosie
einen kurzen Flur von der Küche aus hinunterführte. »Die
Chefin.«
»Wie ist sie?«
»Wirst schon sehen«, sagte Consuela. Sie öffnete die Tür zu
einem Raum, der möglicherweise einmal eine Vorratskammer gewesen war, trat aber nicht ein.
Der Raum wurde vom unordentlichsten Schreibtisch
beherrscht, den Rosie je in ihrem Leben gesehen hatte. Die
Frau, die dahinter saß, war etwas untersetzt, aber unbestreitbar hübsch. Mit ihrem kurzen, aber ordentlich frisierten
Haar erinnerte sie Rosie an Beatrice Arthur, die Maude in der
alten

Weitere Kostenlose Bücher