Das Bild
obwohl die Stimme
des alten Mannes nicht unfreundlich gewesen war, konnte
sie Tränen in sich aufsteigen spüren. »Ich weiß nichts! Ich lauf
schon seit Stunden rum, ich bin müde und -«
»Schon gut, schon gut«, sagte er, »macht nichts, regen Sie
sich nicht auf, Sie kommen schon hin. Steigen Sie an der Elk
aus dem Bus aus. Durham ist nur zwei oder drei Blocks weiter. Kinderleicht. Haben Sie die Adresse?«
Sie nickte.
»Gut, dann los«, sagte er. »Dürfte kein Problem sein.«
»Danke.«
Er holte ein zerknittertes, aber sauberes Taschentuch aus
der Gesäßtasche. Das hielt er ihr mit einer knotigen Hand
hin. »Wischen Sie sich mal das Gesicht ab, Teuerste«, sagte er.
»Sie tropfen.«
5
Sie ging langsam die Dearborn Avenue entlang, schenkte
den Bussen, die an ihr vorbeischnarchten, kaum Beachtung,
und ruhte sich an jeder zweiten oder dritten Haltestelle auf
einer Bank aus. Ihre Kopfschmerzen, die weitgehend darauf
zurückzuführen waren, daß sie sich verlaufen hatte, hatten
nachgelassen, aber ihre Füße und ihr Rücken schmerzten
mehr denn je. Sie brauchte eine Stunde, bis sie zur Elk Street
kam. Sie wandte sich nach rechts und fragte die erste Person,
der sie begegnete - eine schwangere junge Frau -, ob dies der
Weg zur Durham Avenue sei.
»Hau ab«, sagte die schwangere junge Frau, deren Gesicht
so haßerfüllt wurde, daß Rosie unwillkürlich zwei Schritte
zurück wich.
»Pardon«, sagte Rosie.
»Wer hat dir überhaupt gesagt, daß du mich ansprechen
sollst, das wüßte ich gern! Geh mir aus dem Weg!« Damit
rempelte sie Rosie so grob an, daß sie um ein Haar in den
Rinnstein gestürzt wäre. Rosie sah ihr fassungslos nach,
dann drehte sie sich um und ging weiter.
6
Sie ging langsamer denn je die Elk Street entlang, eine
Straße mit kleinen Geschäften
- chemische Reinigungen,
Blumenlä den, Lebensmittelläden mit Obstauslagen auf dem
Bürger
steig, Schreibwarenläden. Sie war jetzt so müde, sie wußte
nicht, wie lange sie sich noch auf den Beinen halten, geschweige denn gehen konnte. Hatte Mr. Slowik ihr gesagt,
daß sie auf der Durham rechts oder links abbiegen sollte? Sie
konnte sich nicht erinnern. Sie wandte sic h nach rechts und
stellte fest, daß die Hausnummern von vierhundertfünfzig
an aufwärts gingen.
»Andersrum«, murmelte sie und machte wieder kehrt.
Zehn Minuten später stand sie vor einem sehr großen Holzhaus (das wahrhaftig einen frischen Anstrich vertragen
konnte), drei Stockwerke hoch, mit einem großen, gepflegten
Rasen. Die Jalousien waren heruntergelassen. Auf der
Veranda standen Korbstühle, ein rundes Dutzend, aber im
Moment war keiner besetzt. Kein Schild, auf dem Daughters
and Sisters stand, aber die Hausnummer auf der Säule links
neben den Stufen zur Veranda war 251. Sie ging langsam den
Plattenweg entlang, dann die Stufen hinauf, und nun hielt
sie die Handtasche an der Seite.
Sie werden dich wegschicken, flüsterte eine Stimme. Sie kam
aus ihrem tie fsten Inneren, aus einer düsteren Höhle der
Seele, wo Fledermäuse an den Klauen von der Decke hingen
und erdfarbene Eidechsen blind an den Wänden krabbelten. Sie werden dich wegschicken, dann kannst du zum Busbahnhof
zurück. Du solltest beizeiten hinkommen, damit du dir ein hübsches Plätzchen auf dem Boden sichern kannst.
Die Klingel war mit Isolierband überklebt, das Schlüsselloch mit Metall abgedeckt. Links von der Tür befand sich ein
Kartenschlitz, der brandneu aussah, darüber das Kästchen
einer Sprechanlage. Unter dem Kästchen klebte ein kleines
Schild mit der Aufschrift: BESUCHER KNOPF DRÜCKEN
UND SPRECHEN.
Rosie drückte den Knopf. Im Verlauf ihrer morgendlichen
Wanderung hatte sie sich einiges überlegt, was sie sagen
konnte, um sich vorzustellen, aber jetzt, wo sie tatsächlich
hier war, fiel ihr nicht einmal mehr die einfachste und kümmerlichste Floskel ein. Ihr Verstand war vollkommen leer. Sie
ließ einfach den Knopf los und wartete. Die Sekunden verstrichen, jede einzelne wie ein kleiner Bleibarren. Sie wollte
nochmals den Knopf drücken, als eine Frauenstimme aus
dem Lautsprecher ertönte. Sie hörte sich blechern und emotionslos an.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann mit dem Schnurrbart vor dem Wee Nip hatte ihr
Angst gemacht, und die schwangere junge Frau hatte sie verblüfft, aber beide hatten sie nicht zum Weinen gebracht.
Doch als sie diese Stimme hörte, kamen die Tränen - sie
konnte sie nicht zurückhalten.
»Ich hoffe, daß Sie das können«, sagte Rosie und wischte
sich mit der
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