Das Bild
uns
treiben treiben treiben.«
Sie ging um die Ecke und ließ einen langen Atemstoß entweichen, der wie etwas Lebendiges im hektischen, ängstlichen Rhythmus ihres Herzschlags pulsierte. Bis zu diesem
Augenblick hatte sie ihre Heimatstadt und ihre altbekannte
Umgebung nicht im geringsten vermißt, aber jetzt verschmolzen ihre Angst vor dem Mann vor der Bar und ihre
Desorientierung warum mußten alle Häuser gleich aussehen, warum? zu einem Gefühl, das fast Heimweh gleichkam. Sie hatte sich noch nie so schrecklich allein gefühlt, war
noch nie so überzeugt gewesen, daß alles ein schlimmes
Ende nehmen würde. Der Gedanke kam ihr, daß sie diesem
Alptraum vielleicht nie entkommen, daß er ein Vorgeschmack darauf sein konnte, wie ihr restliches Leben aussehen könnte. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, daß es gar
keine Durham Avenue gab, daß Mr. Slowik von Traveller’s
Aid, der so einen netten Eindruck machte, in Wahrheit ein
sadistischer Irrer war, dem es Spaß machte, Leute, die in der
Klemme steckten, noch tiefer reinzureiten.
Als ihre Uhr Viertel nach acht zeigte - die Sonne war längst
aufgegangen und versprach einen für die Jahreszeit ungewöhnlich heißen Tag -, näherte sie sich einer dicken Frau im
Hauskleid, die am Ende ihrer Einfahrt stand und mit langsamen, stilisierten Bewegungen leere Mülleimer auf einen Leiterwagen lud.
Rosie nahm die Sonnenbrille ab. »Pardon?«
Die Frau wirbelte sofort herum. Sie hatte den Kopf gesenkt
und den trotzigen Ausdruck einer Frau, die gelegentlich von
der anderen Straßenseite oder aus vorbeifahrenden Autos
Fettsack genannt wurde. »Was wollnse?«
»Ich suche 251 Durham Avenue«, sagte Rosie. »Ein Haus,
das Daughters and Sisters heißt. Ich hatte eine Wegbeschreibung, aber ich glaube …«
»Was, die Wohlfahrtslesben? Da hast du das falsche
Mädchen gefragt, Baby. Ich kann nichts mit Drogentussis
anfangen. Hau ab. Verpiß dich.«
Damit drehte sie sich wieder zu ihrem Leiterwagen um
und zog die scheppernden Mülleimer auf dieselbe langsame,
zeremonielle Weise die Einfahrt hinauf, wobei sie sie mit
einer Hand abstützte. Ihre Pobacken schwabbelten ungehindert unter dem weiten Hauskleid. »Haste nicht gehört? Verpiß dich gefälligst. Sonst ruf ich die Polizei.«
Das letzte Wort war wie ein fester Schlag auf eine empfindliche Stelle. Rosie setzte die Sonnenbrille wieder auf und
entfernte sich hastig. Polizei? Nein, danke. Sie wollte nichts
mit der Polizei zu tun haben. Mit keinem Polizisten. Aber als
sie etwas Distanz zwischen sich und die dicke Lady gebracht
hatte, stellte Rosie fest, daß es ihr tatsächlich etwas besser
ging. Sie hatte immerhin herausfinden können, daß Daughters and Sisters (in manchen Vierteln als Wohlfahrtsle sben
bekannt) tatsächlich existierte, und das war ein Schritt in die
richtige Richtung.
Zwei Blocks weiter kam sie zu einem Tante-Emma-Laden
mit einem Fahrradständer davor und einem Schild im Schaufenster: OFENFRISCHE BRÖTCHEN. Sie ging hinein, kaufte
ein Brötchen - es war noch warm, und Rosie mußte an ihre
Mutter denken - und fragte den Mann hinter dem Tresen, ob
er ihr den Weg zur Durham Avenue beschreiben könne.
»Da haben Sie ja noch ein schönes Stück vor sich«, sagte er.
»Ach ja? Wieviel?«
»Zwei Meilen oder so. Kommen Sie mit.«
Er legte ihr eine knochige Hand auf die Schulter, führte sie
zur Tür zurück und zeigte auf eine belebte Kreuzung, nur
einen Block entfernt. »Das da ist die Dearborn Avenue.«
»O Gott, wirklich?« Rosie war nicht sicher, ob sie lachen
oder weinen sollte.
»So isses. Das Problem, an der Dearborn war zu finden,
liegt nur darin, daß sie fast durch die ganze Stadt geht. Sehen
Sie das geschlossene Kino da?«
»Ja.«
»Da müssen Sie nach rechts auf die Dearborn abbiegen. Sie
müssen sechzehn bis achtzehn Blocks gehen. Ist’n gutes
Stück. Besser, Sie nehmen den Bus.«
»Wahrscheinlich«, sagte Rosie, wohl wissend, daß sie das
nicht tun würde. Ihr Kleingeld war alle, und wenn ihr ein
Busfahrer die Hölle heiß machte, weil sie das Fahrgeld nicht
passend hatte, würde sie wahrscheinlich in Tränen ausbrechen. (Der Gedanke, daß der Mann, mit dem sie sich unterhielt, ihr jederzeit gern vier Vierteldollarmünzen für einen
Dollarschein gegeben hätte, kam ihr in ihrer Verwirrung und
Müdigkeit nicht in den Sinn.)
»Dann kommen Sie zur -«
»- Elk Street.«
Er sah sie erstaunt an. »Lady! Wenn Sie den Weg kennen,
warum haben Sie dann überhaupt gefragt?«
»Ich kenne ihn nicht«, sagte sie, und
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