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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Karte.«
Er hielt ihr die Karte hin, aber sie schüttelte lächelnd den
Kopf. »Ich hätte keine Verwendung dafür. Schönen Tag noch,
Mr. Steiner.«
Sie ging zur Tür, aber diesmal nahm sie den dritten Gang,
weil der ältere Herr mit der Aktentasche in einer und ein
paar alten Taschenbüchern in der anderen Hand ein paar
Schritte auf sie zugegangen war. Sie war nicht sicher, ob er
mit ihr reden wollte, wußte aber ganz bestimmt, sie wollte
nicht mit ihm reden. Im Augenblick wollte sie nur so schnell
wie möglich raus aus Liberty City Kredite & Pfandleihen, in
einen Bus einsteigen und vergessen, daß sie je hier gewesen
war.
Sie bemerkte nur am Rande, daß sie eine Abteilung der
Pfandleihe passierte, wo sich kleine Figuren und Bilder,
gerahmte wie ungerahmte, auf den staubigen Regalen
drängten. Sie hatte den Kopf erhoben, sah aber nichts; sie
war nicht in der Stimmung für Kunst, darstellende oder
andere. Daher war es um so bemerkenswerter, daß sie unvermittelt, fast schlitternd, stehenblieb. Es war, als hätte sie das
Bild überhaupt nicht gesehen, jedenfalls nicht bei dieser
ersten Gelegenheit.
Es war, als hätte das Bild sie gesehen.
3
    Die übermächtige Faszination, die davon ausging, war etwas
noch nie Dagewesenes in ihrem Leben, aber das kam ihr
nicht außergewöhnlich vor - sie führte nun schon seit über
einem Monat ein Leben fernab aller gewohnten Bahnen.
Auch kam ihr die Faszination (jedenfalls anfangs) nicht
unnormal vor. Der Grund dafür war einfach: Nach vierzehn
Jahren Ehe mit Norman Daniels, in denen sie vom Rest der
Welt abgeschnitten gewesen war, hatte sie keinen Maßstab,
um das Normale vom Unnormalen zu unterscheiden. Ihr
Maßstab dafür, wie sich die Welt in einer bestimmten Situation verhielt, bestand weitgehend aus Fernsehserien und
vereinzelten Filmen, in die er sie mitgenommen hatte (Norman Daniels hatte sich keinen Film mit Clint Eastwood entgehen lassen). Innerhalb des von diesen Medien vorgegebenen Rahmens, schien ihre Reaktion auf das Bild fast normal
zu sein. In Filmen und Fernsehserien waren Leute ständig
wie vor den Kopf geschlagen.
    Und im Grunde genommen spielte es auch keine Rolle.
Wichtig war, wie das Bild sie ansprach und vergessen ließ,
was sie gerade über ihren Ring herausgefunden hatte und
daß sie nur aus der Pfandleihe rauswollte; sie vergessen ließ,
wie erleichtert ihre wunden Füße sein würden, wenn sie den
Bus der Linie Blau sah, der vor dem Hot Pot hielt; sie alles vergessen ließ. Sie dachte nur: Seht euch das an! Ist das nicht
das schönste Bild von der Welt!
    Es war ein Ölgemälde in einem Holzrahmen, etwa einen
Meter breit und fünfundsechzig Zentimeter hoch, und es
lehnte links an einer stehengebliebenen Uhr und rechts an
einem kleinen nackten Cherub. Ringsum standen Bilder
(eine alte, verblaßte Fotografie von St. Paul’s Cathedral; ein
Aquarell, das Obst in einer Schale zeigte; Gondeln bei Dämmerung auf dem Canal Grande; eine Jagdszene, die zeigte,
wie eine Meute der Unaussprechlichen ein Paar der Ungenießbaren durch eine nebelverhangene englische Moorlandschaft jagte), aber die würdigte sie kaum eines Blickes. Sie
interessierte sich für das Bild der Frau auf dem Hügel, nur
dafür. Thema und Ausführung unterschieden sich nicht nennenswert von Bildern, die in Pfandleihen, Souvenirläden
und Buden am Straßenrand überall im ganzen Land (auf der
ganzen Welt, was das betraf) vor sich hin schimmelten, aber
als sie es sah, gingen ihr Augen und Herz vor jener reinen,
offenbarungsgleichen Aufregung über, die nur Kunstwerken
vorbehalten bleibt, welche uns zutiefst berühren - dem Lied,
das uns zum Weinen brachte; der Geschichte, die uns die
Welt deutlich aus einer anderen Perspektive zeigte, zumindest eine Weile; dem Gedicht, das uns mit Lebensfreude
erfüllte; dem Tanz, der uns eine kurze Zeit vergessen ließ,
daß wir eines Tages nicht mehr sein werden.
    Ihre emotionale Reaktion war so unvermittelt, so heftig
und so vollkommen ohne Zusammenhang mit ihrem wahren, praktischen Leben, daß ihr Denken einfach aussetzte
und sie nicht wußte, wie sie mit diesem unerwarteten Feuerwerk fertigwerden sollte. Einen Augenblick kam sie sich vor
wie ein Getriebe, dessen Schalthebel urplötzlich in den Leerlauf gesprungen ist - obwohl der Motor wie verrückt drehte,
tat sich nichts. Dann faßte die Kupplung, und das Getriebe
lief reibungslos weiter.
    Ich will es für meine neue Wohnung, darum bin ich so aufgeregt, dachte sie. Genau aus diesem Grund will ich es haben.

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