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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hin, aber er
beachtete ihn vorerst gar nicht; er studierte das Bild.
»Es ist ein Original, kein Druck«, sagte er, »und ich halt
es nicht für besonders gut. Darum ist es wahrscheinlich hinter Glas. Jemand wollte es aufpolieren. Was soll dieses
Gebäude unten am Hügel sein? Ein ausgebranntes Plantagenhaus?«
»Ich glaube, es sollen die Ruinen eines Tempels sein«,
sagte der alte Mann mit der schäbigen Aktentasche leise.
»Möglicherweise ein griechischer Tempel. Aber es ist schwer
zu sagen, richtig?«
Es war schwer zu sagen, da das fragliche Gebäude fast bis
zum Dach im Unterholz verborgen war. Reben wuchsen an
den fünf Säulen davor hinauf. Eine sechste lag in Bruchstücken da. In der Nähe der umgestürzten Säule lag eine
umgefallene Statue, so überwuchert, daß man lediglich ein
glattes, weißes Steingesicht, das zu Gewitterwolken aufschaute, mit denen der Maler begeistert den Himmel ausgefüllt hatte, über dem Grün erkennen konnte.
»Ja«, sagte Steiner. »Wie auch immer, mir kommt es vor, als
wäre das Gebäude nicht in der richtigen Perspektive - es ist
zu groß für die Stelle, wo es ist.«
Der alte Mann nickte. »Aber das ist eine notwendige Täuschung. Sonst würde man nichts sehen, als das Dach. Was die
umgestürzte Säule und die Statue betrifft, keine Chance - die
wären überhaupt nicht zu sehen.«
Rosie war der Hintergrund gleichgültig; ihre ganze Aufmerksamkeit galt der zentralen Figur des Gemäldes. Auf der
Hügelkuppe stand eine Frau und sah auf die Ruinen des
Tempels hinunter, so daß jeder, der das Bild betrachtete, nur
ihren Rücken sehen konnte. Ihr Haar war blond und hing zu
einem Zopf geflochten den Rücken hinab. Um einen ihrer
anmutigen Oberarme - dem rechten - trug sie einen breiten
Goldreif. Die linke Hand hatte sie erhoben, und obwohl man
es nicht mit Sicherheit sagen konnte, sah es aus, als würde sie
die Augen abschirmen. Das war seltsam angesichts des wolkenverhangenen Gewitterhimmels, dennoch schien sie genau das zu tun. Sie trug ein kurzes Gewand - eine Toga, vermutete Rosie, die eine milchweiße Schulter entblößt ließ. Die
Farbe des Kleidungsstücks war ein leuchtendes Purpurrot.
Es war unmöglich zu sagen, was, wenn überhaupt, sie an
den Füßen trug; das Gras, in dem sie stand, reichte fast bis zu
ihren Knien, wo die Toga aufhörte.
»Wie würdest du es nennen?« fragte Steiner. Er sprach zu
Robbie. »Klassisch? Neo-Klassisch?«
»Ich wüde es Kitsch nennen«, sagte Robbie grinsend,
»aber ich glaube, ich verstehe auch, weshalb diese Frau es
haben will. Es hat eine emotionale Qualität, die ziemlich aufwühlend ist. Die Elemente sind vielleicht klassisch - wie man
sie auf alten Stahlstichen sehen kann -, aber die Stimmung ist
wildromantisch. Und dann die Tatsache, daß die Hauptfigur
uns den Rücken zuwendet. Das erscheint mir sehr seltsam.
Alles in allem … nun, man kann nicht sagen, daß die junge
Dame das beste Bild aus dem Laden ausgewählt hat, aber ich
bin sicher, es ist das eigentümlichste.«
Rosie hörte sie immer noch kaum. Sie entdeckte unablässig
neue Einzelheiten an dem Bild, die ihre Aufmerksamkeit auf
sich lenkten. Zum Beispiel die dunkelviolette Kordel um die
Taille der Frau, die zu dem Schnitt des Gewands paßte, und
die vage Andeutung der linken Brust, die durch den erhobenen Arm enthüllt wurde. Die beiden Männer mäkelten nur
herum. Es war ein wunderbares Gemälde. Sie dachte, sie
könnte es stundenlang betrachten, und wenn sie ihr neues
Zimmer hatte, würde sie wahrscheinlich genau das tun.
»Kein Titel, keine Signatur«, sagte Steiner. »Es sei denn…«
Er drehte das Bild herum. Auf dem Karton der Rückseite
standen in sanften, etwas verschwommenen Kohlestrichen
die Worte ROSE MADDER geschrieben.
»Nun«, sagte er zweifelnd, »da haben wir ja den Namen
der Künstlerin, wie es aussieht. Komischer Name. Vielleicht
ein Pseudonym.«
Robbie schüttelte den Kopf, machte den Mund auf, um
etwas zu sagen, aber dann sah er, daß die Frau, die sich für
das Bild entschieden hatte, es auch besser wußte.
»Es ist der Name des Bildes«, sagte sie, und dann fügte sie
aus Gründen, die sie nie hätte erklären können, noch hinzu:
»Rose ist mein Name.«
Steiner sah sie vollkommen verständnislos an.
»Vergessen Sie es, das ist nur ein Zufall.« Aber war es das
wirklich? fragte sie sich. »Sehen Sie.« Sie drehte das Bild
behutsam wieder um. Dann tippte sie auf das Glas über der
Toga, die die Frau im Vordergrund trug. »Diese Farbe - dieses Purpurrot -

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