Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
ansprechend.
    Etwas bewegte sich links von ihr. Sie drehte sich in diese
Richtung um und sah einen älteren Herrn, der auf dem
Boden kauerte und Taschenbuchstapel unter einem Schild
mit der Aufschrift AUS DER GUTEN ALTEN ZEIT durchsah. Sein Mantel war wie ein Fächer um ihn herum ausgebreitet, und seine Aktentasche
- schwarz, altmodisch und
fadenscheinig an den Säumen - stand geduldig neben ihm
wie ein treuer Hund.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
    Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann hinter
dem Tresen zu, der die Lupe aus dem Auge genommen hatte
und sie freundlich grinsend ansah. Seine Augen waren haselnußbraun, mit einem leichten Grünstich, sehr hübsch, und
sie fragte sich kurz, ob Pam ihn wohl als jemand Interessantes einstufen würde. Vermutlich nicht. Nicht genug tektonische
Platten, die sich unter dem Hemd verschoben.
»Schon möglich«, sagte sie.
    Sie zog Ehering und Verlobungsring ab, dann steckte sie
den schlichten Goldreif wieder an. Er rutschte zu weit hoch
und schien zu locker zu sitzen, aber sie schätzte, daran
würde sie sich gewöhnen. Eine Frau, die ihr eigenes Haus für
immer verließ, ohne sich auch nur frische Unterwäsche
anzuziehen, konnte sich wahrscheinlich an vieles gewöhnen.
Sie legte den Diamantring neben die alte Uhr, an der der
Juwelier gearbeitet hatte, auf das Samtkissen.
    »Was würden Sie sagen, wieviel ist der wert?« fragte sie
ihn. Und dann fügte sie als nachträglichen Einfall hinzu:
»Wieviel würden Sie mir dafür geben?«
    Er streifte den Ring über seinen Daumen, dann hielt er ihn
in den staubigen Sonnenstrahl, der durch das dritte der westlichen Fenster über seine Schulter fiel. Der Stein ließ bunte
Funken vor ihren Augen tanzen, und einen Moment verspürte sie einen Stich des Bedauerns. Dann sah der Juwelier
kurz zu ihr auf, nur ein rascher Seitenblick, aber lange genug,
daß sie etwas in seinen haselnußfarbenen Augen sah, das sie
nicht gleich verstand - ein Blick, der zu sagen schien: Soll das
ein Witz sein?
    »Was?« fragte sie. »Was ist?«
»Nichts«, sagte er. »’nen Moment noch.« Er klemmte die
Lupe ins Auge und betrachtete den Stein ihres Verlobungsrings lange. Als er wieder aufschaute, war sein Blick eindeutiger und leichter zu interpretieren. Sogar unmöglich mißzuverstehen. Plötzlich wußte Rosie alles, aber sie verspürte
keine Überraschung, keine Wut und kein aufrichtiges Bedauern. Bestenfalls eine Art resignierter Verlegenheit: Warum war es ihr vorher nie aufgefallen? Wie hatte sie nur so
dumm sein können?
Das warst du nicht, antwortete ihr diese tiefe Stimme. Echt
nicht, Rosie. Wenn du nicht im Grunde deines Herzens geglaubt
hättest - von Anfang an -, daß der Ring eine Imitation ist, wärst
du schon viel früher in so einen Laden gegangen. Hast du nach deinem zweiundzwanzigsten Geburtstag wirklich noch allen Ernstes
geglaubt, daß dir Norman Daniels einen Ring geschenkt hätte, der
mehrere tausend Dollar wert ist? Wirklich?
Nein, wahrscheinlich nicht. Zunächst einmal wäre sie ihm
das nie wert gewesen. Und außerdem, ein Mann, der drei
Schlösser an der Eingangstür hatte, drei an der Hintertür,
Bewegungsmelder im Garten und eine Alarmanlage in seinem nagelneuen Sentra, hätte seine Frau nie und nimmer mit
einem Diamanten, so groß wie das Ritz, zum Einkaufen
gehen lassen.
»Er ist eine Imitation, richtig?« fragte sie den Juwelier.
»Nun«, sagte er, »es ist ein echter Zirkon, aber mit Sicherheit kein Diamant, falls Sie das meinen.«
»Selbstverständlich meine ich das«, sagte sie. »Was sollte ich
sonst meinen?«
»Alles in Ordnung?« fragte der Juwelier. Er sah aufrichtig
besorgt aus, und jetzt, wo sie ihn aus der Nähe sah, hatte sie
den Eindruck, daß er eher fünfundzwanzig als dreißig sein
mußte.
»Verdammt«, sagte sie. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich.«
Sie holte allerdings ein Kleenex aus der Handtasche - für
den Fall, daß sie in Tränen ausbrach; heutzutage konnte sie
nie sicher sein, wann es dazu kam. Oder vielleicht in hysterisches Lachen; auch das war in letzter Zeit ein paarmal vorgekommen. Es wäre schön, wenn sie beide Extreme vermeiden
könnte, jedenfalls vorerst. Wenn sie dieses Geschäft zumindest mit dem bißchen Würde verlassen könnte, das sie noch
hatte.
»Ich hoffe es«, sagte er, »denn Sie befinden sich in bester
Gesellschaft. Glauben Sie mir. Sie wären überrascht, wie
viele Damen, Damen wie Sie -«
»Ach, hören Sie auf«, sagte sie zu ihm. »Wenn ich was
zum Aufrichten brauche, kaufe

Weitere Kostenlose Bücher