Das Bild
nennt man Rose Madder.«
»Sie hat recht«, sagte Robbie. »Entweder der Künstler oder wahrscheinlich derjenige, dem das Bild zuletzt gehört
hat, weil Kohle ziemlich schnell wieder abgeht-, hat das Bild
nach der Farbe des Chitons benannt.«
»Bitte«, sagte Rose zu Steiner, »können wir zur Sache kommen? Ich muß mich auf den Heimweg machen. Ich bin
sowieso schon spät dran.«
Steiner wollte sie noch einmal fragen, ob sie sicher sei,
aber er sah es ihr an. Und er sah noch etwas - sie hatte etwas
leicht Abgespanntes an sich, das darauf hindeutete, daß sie
es in letzter Zeit nicht leicht gehabt hatte. Es war das Gesicht
einer Frau, die aufrichtiges Interesse und Besorgnis als Spott
betrachten könnte, oder möglicherweise als Schachzug, um
das Geschäft zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Daher
nickte er nur. »Den Ring für das Bild, fairer Tausch. Und wir
sind beide zufrieden.«
»Ja«, sagte Rosie und schenkte ihm ein strahlendes
Lächeln. Es war das erste richtige Lächeln, das sie irgend
jemandem seit vierzehn Jahren geschenkt hatte, und als es
am strahlendsten war, schloß er sie ins Herz. »Und wir sind
beide zufrieden.«
5
Sie blieb einen Moment draußen stehen, betrachtete fassungslos blinzelnd die Autos, die vorbeirasten, und kam
sich vor wie als kleines Kind, wenn sie mit ihrem Vater
aus dem Kino gekommen war
- benommen, ihr halbes
Denken in der wirklichen Welt, die andere Hälfte immer
noch in der Welt des schönen Scheins. Aber das Bild war
durchaus real; wenn ihr Zweifel kamen, mußte sie nur auf
das Paket hinuntersehen, das sie unter ihrem linken Arm
trug.
Die Tür hinter ihr ging auf, und der ältere Mann kam heraus. Jetzt hatte sie sogar bei ihm ein gutes Gefühl und
schenkte ihm ein Lächeln von der Art, wie die Leute es denjenigen vorbehalten, mit denen sie etwas Seltsames oder
Wunderbares zusammen erlebt haben.
»Madam«, sagte er, »würden Sie in Erwägung ziehen, mir
einen kleinen Gefallen zu tun?«
Ihr Lächeln wich einem argwöhnischen Gesichtsausdruck.
»Das kommt drauf an, was es ist, aber es ist nicht meine Art,
Fremden einen Gefallen zu tun.« Das war selbstverständlich
eine Untertreibung. Sie war nicht einmal daran gewöhnt, mit
Fremden zu reden.
Er sah fast verlegen aus, was eine beruhigende Wirkung
auf sie hatte. »Ja, nun, ich weiß, es hört sich seltsam an, aber
es könnte für uns beide von Vorteil sein. Ich heiße übrigens
Lefferts. Rob Lefferts.«
»Rosie McClendon«, sagte sie. Sie überlegte, ob sie ihm die
Hand geben sollte, ließ es aber sein. Wahrscheinlich hätte sie
ihm nicht mal ihren Namen nennen sollen. »Ich glaube wirklich nicht, daß ich Zeit habe, jemand einen Gefallen zu tun,
Mr. Lefferts - ich bin eh schon spät dran und -«
»Bitte.« Er stellte seine abgenutzte Aktentasche ab, griff
mit der rechten Hand in die braune Tüte, die er bei sich hatte,
und holte eines der alten Taschenbücher heraus, die er in der
Pfandleihe gefunden hatte. Der Umschlag zeigte das stilisierte Bild eines Mannes in einem schwarzweiß gestreiften
Sträflingsanzug, der in eine Höhle oder eine Tunnelöffnung
trat. »Ich möchte nur, daß Sie den ersten Absatz dieses
Buches lesen. Laut.«
»Hier?« Sie sah sich um. »Hier auf der Straße? Warum, um
Himmels willen?«
Er wiederholte nur: »Bitte«, und sie nahm das Buch und
dachte, wenn sie tat, was er verlangte, würde sie sich vielleicht ohne weitere Fisimatenten aus dem Staub machen können. Was nicht schlecht wäre, denn sie fing an zu glauben,
daß er nicht ganz richtig im Kopf war. Vielleicht nicht gefährlich, aber dennoch nicht ganz richtig. Und wenn er doch gefährlich sein sollte, wollte sie es herausfinden, so lange das
Liberty City Kredite & Pfandleihen - und Bill Steiner - noch
in Reichweite waren.
Der Titel des Buches lautete Dark Passage, der Autor hieß
David Goodis. Es war nicht überraschend, überlegte sich
Rosie, als sie das Impressum überblätterte, daß sie noch nie
von ihm gehört hatte (auch wenn ihr der Titel vage bekannt
vorkam); Dark Passage war 1946 veröffentlicht worden, siebzehn Jahre bevor sie geboren wurde.
Sie sah Rob Lefferts an. Er nickte ihr eifrig zu und zitterte
fast vor Erwartung … und Hoffnung? Wie konnte das sein?
Aber es sah ganz wie Hoffnung aus.
Rosie, die selbst ein bißchen aufgeregt wurde (gleich und
gleich gesellt sich gern, hatte ihre Mutter oft gesagt), fing an
zu lesen. Wenigstens war der erste Absatz kurz.
»Es war ein harter Schlag. Parry war unschuldig. Außerdem
war er ein
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