Das Bild
Diesen Gedanken griff sie eifrig und dankbar auf. Sicher,
es war nur eine Einzimmerwohnung, aber man hatte ihr versichert, daß es ein großes Zimmer war, mit einer kleinen
Kochnische und einem Bad. Wie auch immer, in jedem Fall
würde es die erste Unterkunft ihres Lebens sein, die ihr und
nur ihr allein gehörte. Das machte sie so wichtig, und deshalb waren auch die Sachen, die sie dafür auswählte, so
wichtig … und das erste war das Allerwichtigste, weil es den
Ton für alles angeben würde, was danach kam.
Ja. So hübsch es auch sein mochte, es blieb ein Zimmer, in
dem Dutzende Singles mit geringem Einkommen vor ihr
gelebt hatten, und Dutzende nach ihr leben würden. Aber
dennoch würde es ein wichtiger Ort sein. Die vergangenen
fünf Wochen waren ein Zwischenspiel gewesen, eine Grauzone zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben. Wenn sie
in das Zimmer einzog, das ihr in Aussicht gestellt worden
war, würde ihr neues Leben - ihr Leben als Single wirklich
beginnen … und dieses Bild, das Norman nie gesehen und
beurteilt hatte, das nur ihr gehörte, konnte ein Symbol dieses
neuen Lebens sein.
So erklärte, begründete und rechtfertigte ihr Verstand vernünftig, gesund und in keiner Weise darauf vorbereitet,
etwas zu erkennen oder einzusehen, das auch nur entfernt
nach Übersinnlichem oder Paranormalen roch - gleichzeitig
ihre heftige Reaktion auf das Bild der Frau auf dem Hügel.
4
Es war das einzige Bild in der Reihe, das mit Glas geschützt
war (Rosie erinnerte sich dunkel, daß Ölgemälde für gewöhnlich nicht verglast wurden, vielleicht, weil sie atmen
mußten, oder so), und in der unteren linken Ecke befand sich
ein kleiner gelber Aufkleber, auf dem stand: $ 75 ODER ?
Sie streckte leicht zitternde Hände aus und ergriff den Bilderrahmen. Sie nahm das Bild behutsam vom Regal und trug
es durch den Gang zurück. Der alte Mann mit der altmodischen Aktentasche war immer noch da und beobachtete
sie immer noch, aber Rosie bemerkte ihn kaum. Sie ging
direkt zum Tresen und stellte das Bild vorsichtig vor Bill Steiner ab.
»Haben Sie was gefunden, das Ihnen gefällt?« fragte er.
»Ja.« Sie klopfte auf das Preisschild in der Ecke des Rahmens. »Hier steht fünfundsiebzig Dollar oder Fragezeichen.
Sie haben mir gesagt, Sie könnten mir fünfzig für meinen
Verlobungsring geben. Wären Sie bereit, zu tauschen? Meinen Ring gegen dieses Bild?«
Steiner ging seine Seite des Tresens entlang, hob die
Durchgangsklappe am Ende hoch und kam auf Rosies Seite.
Er betrachtete das Bild so sorgfältig wie ihren Ring … aber
diesmal mit einer gewissen Heiterkeit.
»Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Ich glaub nicht,
daß ich es schon mal gesehen hab. Muß der alte Herr eingekauft haben. Er ist der Kunstliebhaber der Familie; ich bin
nur ein besserer Laufbursche.«
»Soll das heißen Sie können nicht -«
»Feilschen? Hören Sie auf. Ich feilsche bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, wenn Sie mich lassen. Aber diesmal muß ich
das gar nicht. Ich gehe mit Vergnügen auf Ihr Angebot ein sogar im Tausch. Dann muß ich nicht mit ansehen, wie Sie
hier rausgehen und das Gesicht praktisch am Boden hängen
haben.«
Und wieder folgte eine Premiere; ehe sie überlegen
konnte, was sie da tat, legte Rosie Bill Steiner die Arme um
den Hals und drückte ihn kurz, aber begeistert an sich.
»Danke!« rief sie. »Vielen Dank!«
Steiner lachte. »O Mann, gern geschehen«, sagte er. »Ich
glaube, eben bin ich in diesen heiligen Hallen zum erstenmal
von einem Kunden umarmt worden. Sehen Sie noch andere
Bilder, die Sie unbedingt haben wollen, Lady?«
Der alte Mann mit dem Mantel
- den Steiner Robbie
genannt hatte - kam herüber, um sich das Bild anzusehen.
»Wenn man bedenkt, wie die meisten Kunden von Pfandleihen aussehen, ist das wahrscheinlich ein Glück«, sagte er.
Bill Steiner nickte. »Damit magst du wohl recht haben.«
Rosie hörte sie kaum. Sie kramte in ihrer Handtasche nach
dem Kleenex, in das sie den Ring eingewickelt hatte. Sie
brauchte länger als nötig gewesen wäre, um es zu finden,
weil ihr Blick immer wieder zu dem Bild auf dem Tresen
schweifte. Ihrem Bild. Zum erstenmal dachte sie voller Ungeduld an das Zimmer, das sie bekommen würde. Ihr eigenes
Zimmer, nicht nur eine Pritsche unter vielen. Ihr eigenes
Zimmer, und ihr eigenes Bild, das sie an die Wand hängen
konnte. Das werde ich als erstes machen, dachte sie, als sie das
Bündel Zellstoff in die Finger bekam. Als allererstes. Sie
wickelte den Ring aus und hielt ihn Steiner
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