Das Bild
Am
wenigsten mochte sie es, berührt zu werden.
»Tut mir leid«, sagte Rosie und wich zurück.
»Sei nicht albern«, antwortete Anna brüsk. »Wie findest
du es?«
»Großartig«, sagte Rosie.
Anna lächelte, und der kurze peinliche Vorfall war schnell
vergessen. Sie malte ein X an die Wohnzimmerwand neben
dem kleinen Rechteck, wo sich das einzige Fenster des Zimmers befand. »Dein neues Bild … ich wette, du bist der Meinung, daß es genau hierher gehört.«
»Das glaube ich auch.«
Anna legte den Bleistift weg. »Freut mich, daß ich dir helfen kann, Rosie, und ich bin froh, daß du zu uns gekommen
bist. Hier, du tropfst.« Wieder ein Kleenex, aber Rosie
bezweifelte, daß es noch dieselbe Box war, aus der Anna ihr
bei ihrem ersten Gespräch eins gegeben hatte; sie hatte eine
Ahnung, als würden hier jede Menge Kleenex verbraucht
werden.
Sie nahm es und wischte sich die Augen ab. »Weißt du, du
hast mir das Leben gerettet«, sagte sie heiser. »Du hast mir
das Leben gerettet, und das werde ich nie, niemals vergessen.«
»Schmeichelhaft, aber unzutreffend«, sagte Anna mit ihrer
trockenen, ruhigen Stimme. »Ich habe dir ebensowenig das
Leben gerettet, wie Cynthia unten im Übungsraum Gert herumgewirbelt hat. Du hast dir selbst das Leben gerettet, als du
deine Chance genutzt und den Mann verlassen hast, der dich
gequält hat.«
»Trotzdem danke. Und sei es nur dafür, daß ich hier sein
durfte.«
»Gern geschehen«, sagt Anna, und nun sah Rosie zum
erstenmal in der ganzen Zeit ihres Aufenthalts bei D & S
auch in Anna Stevensons Augen Tränen glitzern. Sie gab die
Kleenex-Box mit einem verhaltenen Lächeln zurück.
»Hier«, sagte sie. »Sieht so aus, als könntest du auch eins
gebrauchen.«
Anna lachte, nahm ein Kleenex, benutzte es und warf es in
den Papierkorb. »Ich hasse es, zu weinen. Das ist mein größtes, dunkelstes Geheimnis. Hin und wieder denke ich, daß
ich damit fertig bin, daß ich damit fertig sein muß, und dann
passiert es mir wieder. So ähnlich geht es mir mit Männern.«
Rosie mußte wieder kurz an Bill Steiner und seine haselnußbraunen Augen denken.
Anna nahm den Bleistift wieder in die Hand und kritzelte
etwas unter die grobe Skizze des Appartments. Dann gab sie
Rosie das Blatt. Sie hatte eine Adresse darunter geschrieben:
897 Trenton Street.
»Da wirst du wohnen«, sagte Anna. »Es liegt praktisch auf
der anderen Seite der Stadt, aber du bist ja jetzt mit den Buslinien vertraut, richtig?«
Lächelnd - und auch noch ein bißchen weinend - nickte
Rosie.
»Du gibst diese Adresse vielleicht einigen Freundinnen,
die du hier gefunden hast, und vielleicht auch einmal neuen
Freunden, aber im Augenblick kennt sie außer uns beiden
niemand.« Was sie sagte, kam Rosie einstudiert vor - eine
Abschiedsrede. »Wenn jemand bei dir auftaucht, hat er die
Adresse nicht von hier. So handhaben wir das bei D & S. Nach
fünfundzwanzig Jahren Umgang mit mißhandelten Frauen
bin ich der Überzeugung, daß es nicht anders geht.«
Pam hatte Rosie das alles erklärt; ebenso Consuela Delgado und Robin St. James. Diese Unterweisungen fanden
stets während der »Vergnügungsstunde« statt, wie die
Bewohnerinnen die abendliche Hausarbeit bei D & S nannten, aber Rosie hatte sie eigentlich nicht gebraucht; es waren
nur drei oder vier Therapiesitzungen im Salon erforderlich,
damit jemand, der auch nur halbwegs intelligent war, alles
Notwendige über die Hausordnung erfuhr. Es gab Annas
Liste, und es gab Annas Vorschriften.
»Machst du dir große Sorgen seinetwegen?« fragte Anna.
Rosies Aufmerksamkeit war ein wenig abgeschweift; nun
war sie sofort wieder bei der Sache. Zuerst war sie nicht einmal sicher, von wem Anna sprach.
»Dein Mann - machst du dir große Sorgen seinetwegen?
Ich weiß, in den ersten zwei oder drei Wochen, als du hier
warst, hast du Angst gehabt, daß er dich verfolgen würde …
daß er dich >aufspüren< würde, wie du dich ausgedrückt
hast. Wie denkst du jetzt darüber?«
Rosie dachte gründlich über die Frage nach. Zuerst einmal
war Angst ein unzureichendes Wort, um die Gefühle zu
beschreiben, die sie während ihrer ersten Woche bei D & S
gehegt hatte, was Norman betraf; nicht einmal Todesangst
traf es vollkommen, denn der Kern ihrer Gefühle wurde von
anderen Empfindungen überlagert
- und teilweise verändert: Scham darüber, daß ihre Ehe gescheitert war; Heimweh
nach den wenigen Habseligkeiten, die ihr wirklich etwas
bedeuteten (zum Beispiel Pus Stuhl); einem euphorischen
Gefühl, frei zu sein,
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