Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
und alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf verdrängt wurden. Sie
betrachtete die blonde Frau in der dunkelroten Toga, (oder
dem Chiton - so hatte Mr. Lefferts es genannt), die im hohen
Gras auf dem Hügel stand, und bemerkte wieder den Zopf,
der gerade an ihrem Rücken herunterhing, und den Goldreif
über dem rechten Ellbogen. Dann ließ sie den Blick zu dem
verfallenen Tempel und der umgestürzten
(Gottheit)
Statue am Fuß des Hügels schweifen. Zu dem, was die
Frau in der Toga betrachtete.
Woher weißt du, daß sie das betrachtet? Wie kannst du das wissen? Du kannst doch ihr Gesicht nicht sehen!
Das stimmte natürlich … aber was gab es dort sonst zu
betrachten?
»Nein«, sagte Rosie. »Ich habe es nicht gekauft, weil ich es
schön fand. Ich habe es gekauft, weil es mir stark vorkam.
Wie es bewirkt hat, daß ich so plötzlich stehenblieb, das war
stark. Muß ein Bild schön sein, damit es gut ist, was meint
ihr?«
»Nee«, sagte Consuela. »Denk an Jackson Pollock. Bei seinen Gemälden ging es nicht um Schönheit, sondern um
Energie. Oder Diane Arbus, was ist mit der?«
»Wer ist das?« fragte Cynthia.
»Eine Fotografin, die berühmt wurde mit Bildern von
Frauen mit Bart oder rauchenden Liliputanern.«
»Oh.« Cynthia dachte darüber nach, und plötzlich strahlte
ihr Gesicht, weil ihr etwas eingefallen war. »Ich hab mal ein
Bild gesehen, das war bei einer Party, wo ich als Cocktailkellnerin gearbeitet habe. In einer Kunstgalerie. Es war von
einem Mann namens Applethorpe, Robert Applethorpe, und
wollt ihr wissen, was drauf war? Einen Kerl, der den Pimmel eines anderen verschlungen hat! Im Ernst! Und der tat
nicht nur so, wie in einem Pornoheft. Ich meine, der Kerl hat
sich Mühe gegeben, er hat sich reingekniet und Überstunden
gemacht. Man sollte nicht glauben, daß ein Kerl so ein Rie senstück von einem alten Besenstiel in seinen -«
»Mapplethorpe«, sagte Anna trocken.
»Hm?«
»Mapplethorpe, nicht Applethorpe.«
»Oh ja, kann schon sein.«
»Der ist inzwischen gestorben.«
»Tatsächlich?« fragte Cynthia. »Und woran?«
»Aids.« Anna betrachtete immer noch Rosies Bild und
sprach geistesabwesend weiter. »In gewissen Kreisen auch
als Besenstielkrankheit bezeichnet.«
»Du hast gesagt, du hast schon mal ein Bild wie das von
Rosie gesehen«, knurrte Gert. »Wo war das, Winzling? In
derselben Kunstgalerie?«
»Nein.« Als sie über Mapplethorpe gesprochen hatte, da
hatte Cynthia nur interessiert ausgesehen; jetzt liefen ihre
Wangen rot an, und an den Mundwinkeln bildeten sich die
Grübchen eines zaghaften, defensiven Lächelns. »Und es
war nicht genau dasselbe, weißt du, sondern …«
»Los, raus damit«, sagte Rosie.
»Nun, mein Dad war Methodistenpfarrer in Bakersfield«,
sagt Cynthia. »Und zwar Bakersfield, Kalifornien, wo ich
herkomme. Wir wohnten im Pfarrhaus, und unten in den
kleinen Empfangszimmern hingen alle möglichen alten Bilder. Manche zeigten Präsidenten, manche Blumen, manche
Hunde. Die waren nicht wichtig. Einfach Sachen, die man an
die Wand hängt, damit sie nicht so kahl aussieht.«
Rosie nickte und dachte an die anderen Bilder auf den verstaubten Regalen der Pfandleihe
- Gondeln in Venedig,
Obstschalen, Hunde und Füchse. Einfach Sachen, die man an
die Wand hängt, damit sie nicht so kahl aussieht. Münder
ohne Zungen.
»Aber da war eins … es hieß …« Sie runzelte die Stirn und
versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, es hieß >DeSoto
schaut nach Westen. < Es zeigte diesen Eroberer in Blechhosen
und mit ‘nem Hut wie ‘ne Suppenschüssel, der von India nern umgeben auf einer Felsenklippe stand. Und er sah über
einen meilenweiten Wald zu einem riesengroßen Fluß. Ich
glaube, es war der Mississippi. Aber, wißt ihr … die Sache
war die…«
Sie sah unsicher in die Runde. Ihre Wangen waren röter
denn je, das Lächeln verschwunden. Der dicke Verband über
ihrem Ohr sah sehr weiß aus, sehr auffällig, wie ein eigentümliches Accessoire, das auf die Seite ihres Kopfs aufgepfropft
worden war, und Rosie überlegte kurz - nicht zum erstenmal, seit sie zu D & S gekommen war -, warum so viele Männer so brutal waren. Was stimmte nicht mit ihnen? War es
etwas, das vergessen worden war, oder etwas Häßliches, das
unerklärlicherweise eingebaut worden war, wie ein fehlerhafter Schaltkreis in einen Computer?
»Immer raus damit, Cynthia«, sagte Anne. »Wir werden
dich nicht auslachen. Oder?«
Die Frauen schüttelten die Köpfe.
Cynthia verschränkte die Hände hinter dem Rücken

Weitere Kostenlose Bücher