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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ihr
hatte seine Zweifel … würde immer seine Zweifel haben,
vermutete sie, bis er aufkreuzte und die Sache aus dem
Bereich reiner Spekulation herausholte. Wenn das geschah,
würde das ganze Leben, das sie in den vergangenen anderthalb Monaten geführt hatte - D & S, das Whitestone Hotel,
Anna, ihre neuen Freundinnen - in dem Moment verblassen
wie ein Traum, aus dem man wach wurde, wenn sie eines
Abends die Tür aufmachte und Norman davorstehen sah?
War das möglich?
Rosie sah zu ihrem Gemälde, das neben der Bürotür an der
Wand lehnte, und plötzlich wußte sie, daß das nicht möglich
war. Das Gemälde stand verkehrt herum an der Wand, so
daß nur die Rückseite zu sehen war, aber Rosie stellte fest,
daß sie es trotzdem sehen konnte; das Bild der Frau auf dem
Hügel mit den Gewitterwolken am Himmel über und dem
halb versunkenen Tempel unter ihr war vor Rosies geistigem
Auge kristallklar, nicht im geringsten wie in einem Traum.
Sie glaubte nicht, daß überhaupt etwas ihr Bild in einen Traum
verwandeln konnte.
Und mit etwas Glück werden diese Fragen nie beantwortet werden müssen, dachte sie und lächelte ein wenig.
»Was ist mit der Miete, Anna? Wieviel?«
»Dreihundertzwanzig Dollar im Monat. Kommst du wenigstens zwei Monate über die Runden?«
»Ja.« Das wußte Anna selbstverständlich; wenn Rosie für
ihren Start ins Leben nicht genügend auf der hohen Kante
gehabt hätte, würden sie dieses Gespräch überhaupt nicht
führen. »Scheint durchaus angemessen zu sein. Was die
Miete betrifft, wird es immerhin ein guter Anfang für mich.«
»Ein guter Anfang«, wiederholte Anna. Sie stützte das
Kinn mit gegeneinander gepreßten Fingern ab und warf
Rosie einen scharfen Blick zu. »Das bringt mich auf das
Thema deines neuen Jobs. Es hört sich absolut wundervoll
an, aber gleichzeitig klingt es -«
»Fragwürdig? Vorübergehend?« Diese Worte waren ihr
auf dem Nachhauseweg in den Sinn gekommen … ebenso
die Tatsache, daß sie trotz Robbie Lefferts’ Begeisterung nicht
vor Montagvormittag wußte, ob der Job wirklich etwas für
sie war jedenfalls nicht mit Sicherheit.
Anna nickte. »Das sind nicht die Worte, die ich selbst
gebraucht hätte - ich weiß nicht genau, welche Worte es
gewesen wären -, aber sie treffen es ganz gut. Es ist nur so,
wenn du im Whitestone aufhörst, kann ich dir nicht garantieren, ob ich dich wieder dort unterbringen kann, schon gar
nicht auf die Schnelle. Es kommen immer neue Mädchen
hierher zu D & S, wie du selbst genau weißt, und denen muß
meine erste Sorge gelten.«
»Selbstverständlich. Das verstehe ich.«
»Ich würde selbstverständlich tun, was in meiner Macht
steht, aber -«
»Wenn es mit dem Job nicht klappt, den mir Mr. Lefferts
angeboten hat, werde ich mir eine Stelle als Kellnerin
suchen«, sagte Rosie ruhig. »Meinem Rücken geht es viel
besser, darum glaube ich, daß ich es schaffen würde. Und mit
Dawns Hilfe könnte ich vielleicht in einem Seven Eleven
oder Piggly-Wiggly die Nachtschicht übernehmen.« Dawn
war Dawn Verecker, die in einem der Hinterzimmer Anfängerkurse in der Bedienung einer Registrierkasse gab. Rosie
war eine aufmerksame Schülerin gewesen.
Anna sah Rosie immer noch scharf an. »Aber du glaubst
nicht, daß es dazu kommt, oder?«
»Nein.« Sie warf wieder einen Blick auf ihr Bild. »Ich
glaube, es wird klappen. In der Zwischenzeit verdanke ich
dir soviel…«
»Du weißt, was du in der Hinsicht tun kannst, oder?«
»Es weitergeben.«
Anna nickte. »Ganz recht. Solltest du eines Tages eine
andere Version von dir die Straße hinuntergehen sehen- eine
Frau, die hilflos aussieht und vor ihrem eigenen Schatten
Angst hat - dann gib es weiter.«
»Darf ich dich etwas fragen, Anna?«
»Jederzeit.«
»Du hast gesagt, deine Eltern haben Daughters and Sisters
gegründet. Warum? Und warum führst du es weiter? Oder
gibst es weiter, wenn dir das lieber ist?«
Anna zog eine Schreibtischschublade auf, kramte darin
und zog ein dickes Taschenbuch heraus. Sie warf es Rosie
über den Schreibtisch hinweg zu, und die fing es auf, starrte
es an und erfuhr einen Augenblick so lebhaften Wiedererkennens, daß er einem dieser Flashback-Momente gleichkam, wie Kriegsveteranen sie manchmal erleiden. In diesem
Augenblick erinnerte sie sich nicht nur an die Nässe auf
den Innenseiten ihrer Oberschenkel, ein Gefühl wie kleine,
dunkle Küsse, sondern schien sie erneut zu erleben. Sie
konnte Normans Schatten sehen, wie er in der Küche stand
und telefonierte. Sie konnte seine

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