Das Bild
wie
ein kleines Mädchen, das aufgefordert wurde, vor der
ganzen Klasse ein Gedicht aufzusagen. »Nun«, sagte sie mit
deutlich leiserer Stimme als sonst, »es war, als würde der
Fluß sich bewegen, das hat mich fasziniert. Das Bild hing in
dem Zimmer, wo mein Vater Donnerstag abends seine Bibelstunde abhielt, und ich ging da rein, saß manchmal eine
Stunde oder länger vor diesem Bild und betrachtete es wie
einen Fernseher. Ich sah zu, wie sich der Fluß bewegte …
oder wartete darauf, ob er sic h bewegte, ich kann mich nicht
mehr genau erinnern, aber ich war auch erst neun oder zehn.
Ich weiß aber noch ganz deutlich, wie ich dachte, wenn sich
der Fluß bewegte, würde eines Tages ein Floß oder Boot oder
ein Indianerkanu vorbeitreiben, und dann würde ich es mit
Sicherheit wissen. Aber eines Tages kam ich in das Zimmer,
und das Bild war weg. Peng. Ich glaube, meine Mutter hat
mal in das Zimmer geschaut und mitbekommen, daß ich einfach nur vor dem Bild saß, ihr wißt schon, und -«
»Sie hat es mit der Angst bekommen und es abgehängt«,
sagte Robin.
»Ja, wahrscheinlich hat sie es auf den Müll geworfen«,
sagte Cynthia. »Ich war nur ein Kind. Aber dein Bild erinnert
mich daran, Rosie.«
Pam betrachtete es eingehend. »Jawoll«, sagte sie, »kein
Wunder. Ich kann sehen, wie die Frau atmet.«
Da lachten sie alle, und Rosie lachte mit ihnen.
»Nein, das ist es nicht«, sagte Cynthia. »Es ist nur … es
sieht ein bißchen altmodisch aus, weißt du … wie ein Bild in
einem Klassenzimmer… und es ist blaß. Abgesehen von den
Wolken und ihrem Kleid, sind alles blasse Farben. Bei dem
DeSoto-Bild war alles blaß gehalten, außer dem Fluß. Der
Fluß war leuchtend silberfarben. Er sah gegenwärtiger aus als
der Rest des Bilds.«
Gert drehte sich zu Rosie um. »Erzähl uns von deinem Job.
Du hast doch was von einem Job gesagt.«
»Erzähl uns alles«, sagte Pam.
»Ja«, sagte Anna. »Erzähl uns alles. Und ich frage mich, ob
du anschließend kurz in mein Büro kommen könntest.«
»Ist es … ist es das, worauf ich gewartet habe?«
Anna lächelte. »Allerdings, ich glaube, das ist es.«
8
»Es ist ein optimales Zimmer, eines der besten auf unserer
Liste, und ich hoffe, du wirst so entzückt sein, wie ich es
war«, sagte Anna. Auf einer Ecke ihres Schreibtischs befand
sich ein wackeliger Stapel von Handzetteln, mit denen das
bevorstehende Sommeranfangs-Picknick und
-Konzert von
Daughters and Sisters angekündigt wurde, eine Veranstaltung, die zu gleichen Teilen dazu diente, Spenden zu sammeln, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und zu feiern. Anna
nahm einen, drehte ihn herum und kritzelte hastig eine
Skizze auf die Rückseite. »Kochnische hier, Klappbett da,
hier ein kleiner Wohnzimmerbereich. Da ist das Bad. Es ist
kaum groß genug, daß man sich darin umdrehen kann, und
damit du dich auf die Toilette setzen kannst, mußt du praktisch die Füße in die Dusche strecken, aber es gehört dir.«
»Ja«, murmelte Rosie. »Mir.« Ein Gefühl, das sie seit
Wochen nicht mehr gehabt hatte - daß dies alles ein wunderbarer Traum war und sie jeden Moment wieder neben Norman aufwachen würde -, kam über sie.
»Die Aussicht ist hübsch - selbstverständlich ist es nicht
der Lakeshore Drive, aber der Bryant Park ist sehr schön,
besonders im Sommer. Erster Stock. In den achtziger Jahren
ist das Viertel ein bißchen runtergekommen, aber sie machen
allmählich wieder was draus.«
»Hört sich an, als hätten Sie selbst schon dort gewohnt«,
sagte Rosie.
Anna zuckte die Achseln - eine anmutige, geschmeidige
Geste - und zeichnete den Flur vor dem Zimmer und das
Treppenhaus ein. Sie machte die Skizze mit raschen, leichten
Bleistiftstrichen und der knappen Präzision einer Zeichnerin. Als sie sprach, sah sie nicht auf. »Ich war bei vielen
Anlässen dort«, sagte sie, »aber das hast du selbstverständlich nicht gemeint, oder?«
»Nein.«
»Ein Teil von mir geht mit jeder Frau, die uns verläßt. Ich
nehme an, das hört sich kitschig an, was mich aber nicht
stört. Es stimmt, und nur darauf kommt es an. Was meinst
du?«
Rosie umarmte sie impulsiv und bedauerte es sofort, als
sie merkte, wie Anna erstarrte. Ich hätte es nicht tun sollen, dachte sie, als sie wieder losließ. Ich wußte es. So war es. Anna
Stevenson war eine herzliche Frau, daran bestand kein Zweifel _ vielleicht sogar eine Heilige -, aber da war diese seltsame Arroganz, und da war noch etwas: Anna mochte es
nicht, wenn ihr andere zu dicht auf die Pelle rückten.
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