Das Bild
das sich mindestens einmal täglich zu
erneuern schien; und eine so kalte Erleichterung, daß es
manchmal beängstigend war; ein Gefühl, wie es ein Seiltänzer haben könnte, der an der am weitesten draußen gelegenen Stelle stolpert, als er ein tiefes Tal überquert… und das
Gleichgewicht wiedererlangt.
Aber Angst war vorherrschend gewesen; daran bestand
kein Zweifel. In den ersten zwei Wochen bei D & S hatte sie
immer wieder denselben Traum gehabt: Sie saß auf einem
Korbstuhl auf der Veranda, als vor dem Haus ein brandneuer
roter Sentra am Bordstein hielt. Die Fahrertür ging auf, und
Norman stieg aus. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einer
Karte von Südvietnam darauf. Manchmal standen unter der
Karte die Worte ZU HAUSE IST DA, WO DEIN HERZ IST,
manchmal OBDACHLOS & AIDS. Seine Hosen waren blutbefleckt. Winzige Knochen
- sie sahen wie Fingerknochen
aus - baumelten an seinen Ohrläppchen. In einer Hand hielt
er eine Art Maske, an der Blutspritzer und dunkle Fleischfetzen klebten. Sie wollte von dem Stuhl aufstehen, wo sie saß,
konnte es aber nicht; es war, als wäre sie gelähmt. Sie konnte
nur sitzenbleiben und zusehen, wie er langsam mit seinen
baumelnden Knochenohrringen den Fußweg herauf kam,
um mit ihr zu reden - aus der Nähe. Er lächelte, und sie sah,
daß seine Zähne ebenfalls blutverschmiert waren.
»Rosie?« fragte Anna leise. »Bist du noch da?«
»Ja«, sagte sie atemlos und gepreßt. »Ich bin noch da, und
ja, ich habe immer noch Angst vor ihm.«
»Weißt du, das überrascht mich nicht. Ich nehme an, auf
einer bestimmten Ebene wirst du immer Angst vor ihm
haben. Aber es geht dir sicher besser, wenn du daran denkst,
daß du immer längere Zeiträume erleben wirst, wo du vor
nichts Angst hast … und du nicht mal an ihn denken wirst.
Aber das habe ich eigentlich nicht gefragt. Ich wollte wissen,
ob du immer noch Angst hast, daß er hinter dir her ist.«
Ja, davor hatte sie immer noch Angst. Nein, nicht mehr solche Angst. Sie hatte im Lauf der letzten vierzehn Jahre eine
Menge seiner beruflichen Telefongespräche mitgehört, und
sie hatte oft gehört, wie er sich mit Kollegen über Fälle unterhielt, manchmal unten im Hobbyraum, manchmal auf der
Veranda. Sie nahmen fast nie Notiz von ihr, wenn sie ihnen
Kaffee nachschenkte oder frisches Bier brachte. Fast immer
führte Norman diese Unterhaltungen an; er sprach mit hastiger, ungeduldiger Stimme, während er mit einer Bie rflasche
in seiner riesigen Pranke vornübergebeugt am Tisch saß,
trieb die anderen zur Eile an, räumte ihre Zweifel aus und
weigerte sich, ihre Spekulationen ernstzunehmen. Selten einmal hatte er sich auch mit ihr über einen Fall unterhalten.
Selbstverständlich interessierten ihn ihre Ideen kein bißchen,
aber sie war eine praktische Wand, an der er seine eigenen
abprallen lassen konnte. Er war schnell, ein Mann, der Ergebnisse am liebsten gestern haben wollte, und er neigte dazu,
das Interesse an Fällen zu verlieren, wenn sie einmal drei
Wochen alt waren. Er nannte sie so, wie Gert ihre Selbstverteidigungstechniken: Reste.
Gehörte sie jetzt auch zu seinen Resten?
Wie sehr wollte sie das glauben. Wie sehr versuchte sie es.
Und doch … es gelang ihr … nicht ganz.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ein Teil von mir sagt, wenn er
aufkreuzen wollte, dann hätte er es schon längst getan. Aber
ein anderer glaubt, daß er immer noch nach mir sucht. Und
er ist kein Lastwagenfahrer oder Klempner. Er ist ein Cop. Er weiß, wie man Leute sucht.«
Anna nickte. »Ja, ich weiß. Das macht ihn besonders
gefährlich, und darum mußt du besonders vorsichtig sein.
Und du darfst nie vergessen, du bist nicht allein. Diese Zeit ist
endgültig vorbei für dich, Rosie. Wirst du dir das merken?«
»Ja.«
»Ganz bestimmt?«
»Ja.«
»Und wenn er doch aufkreuzt, was tust du dann?«
»Ihm die Tür vor der Nase zuschlagen und abschließen.«
»Und dann?«
»911 rufen.«
»Ohne zu zögern?«
»Ohne zu zögern«, sagte sie, und das entsprach der Wahrheit, aber Angst würde sie trotzdem haben. Warum? Weil
Norman ein Cop war, und sie würden auch Cops sein, die
Leute, die sie anrief. Weil sie wußte, daß Norman immer seinen Kopf durchsetzte - er war ein Leitwolf. Weil Norman ihr
eines immer und immer wieder gesagt hatte: Alle Cops
waren eine verschworene Gemeinschaft.
»Und was tust du, nachdem du 911 angerufen hast?«
»Ich rufe Sie an.«
Anna nickte. »Du kommst zurecht. Prima zurecht.«
»Ich weiß.« Sie sagte es zuversichtlich, aber ein Teil von
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