Das Bild
Schattenfinger sehen, die
unablässig an einer Schattenschnur zogen. Sie konnte hören,
wie er der Person am anderen Ende sagte, daß es sich selbstverständlich um einen Notfall handelte, daß seine Frau
schwanger war. Und dann sah sie ihn ins Zimmer zurückkommen und die Fetzen des Taschenbuchs aufheben, das er
ihr aus den Händen gerissen hatte, bevor er anfing sie zu
schlagen. Dieselbe Rothaarige war auf dem Umschlag des
Buchs zu sehen, das Anna ihr zugeworfen hatte. Diesmal
trug sie ein Ballkleid und lag in den Armen eines hübschen
Zigeuners, der leuchtende Augen und - so schien es - ein
Paar zusammengerollte Socken vorne in der Hose stecken
hatte.
Das ist das Problem, hatte Norman gesagt. Wie oft hab ich dir
schon gesagt, was ich davon halte, daß du so einen Mist liest?
»Rose?« Das war Anna, die sich besorgt anhörte. Außerdem schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen, wie
die Stimmen, die sie manchmal in Träumen hörte. »Rose,
alles in Ordnung?«
Sie sah von dem Buch auf (Miserys Liebhaber, lautete der
mit derselben roten Folie gestanzte Titel, und darunter stand: Paul Sheldons leidenschaftlichster Roman!) und zwang sich zu
einem Lächeln. »Ja, alles klar. Sieht scharf aus.«
»Liebesschnulzen sind meine heimliche Leidenschaft«,
sagte Anna. »Sie sind besser als Schokolade, weil man davon
nicht dick wird, und die Männer darin sind besser als richtige Männer, weil sie einen nicht um vier Uhr nachts anrufen
und winseln, daß man ihnen noch mal eine Chance geben
soll. Aber sie sind Schund, und weißt du, warum?«
Rosie schüttelte den Kopf.
»Weil sich für alles, was in der Welt passiert, Erklärungen
darin finden. Es gibt darin für alles einen Grund. Sie sind vielleicht genau so an den Haaren herbeigezogen wie die Artikel
in der Regenbogenpresse, und sie stehen vielleicht in krassem Gegensatz zu dem, wie sich die Leute im wirklichen
Leben verhalten, das weiß auch jemand, der nur halbwegs
intelligent ist, aber sie sind da, bei Gott. In einem Buch wie Miserys Liebhaber würde Anna Stevenson Daughters and
Sisters zweifellos leiten, weil sie selbst mißhandelt worden
ist… oder ihre Mutter. Aber ich wurde nie mißhandelt, und
soweit ich weiß, meine Mutter auch nicht. Mein Mann hat
mich häufig vernachlässigt wir sind seit zwanzig Jahren
geschieden, falls Pam oder Gert es dir nicht erzählt haben -,
aber niemals mißhandelt. Im wirklichen Leben, Rosie, tun
die Leute manchmal eben etwas, ob gut oder schlecht, einfach
nur so. Glaubst du das?«
Rosie nickte langsam mit dem Kopf. Sie dachte daran, wie
oft Norman sie geschlagen, ihr weh getan, sie zum Weinen
gebracht hatte … und dann brachte er ihr manchmal völlig
grundlos ein halbes Dutzend rote Rosen und ging mit ihr
Essen. Wenn sie ihn fragte, weshalb, aus welchem Anlaß,
zuckte er nur die Schultern und sagte, ihm sei danach, ihr
»was Gutes zu tun«. Mit anderen Worten, einfach deshalb. Mommy, weshalb muß ich im Sommer um acht Uhr ins
Bett, obwohl es draußen noch hell ist? Deshalb. Daddy, weshalb mußte Großvater sterben? Deshalb. Norman glaubte
wahrscheinlich, daß diese vereinzelten Belohnungen und
Essenseinladungen aus heiterem Himmel eine ganze Menge
wettmachten, daß sie der Ausgleich für das waren, was er
höchstwahrscheinlich als sein »aufbrausendes Temperament«
bezeichnete. Er würde nie erfahren (und hätte es wahrscheinlich auch gar nicht begriffen, selbst wenn sie es ihm
gesagt hätte), daß sie ihr mehr angst machten als sein Zorn
und seine Wutanfälle. Bei denen wußte sie wenigstens, wie
sie damit umgehen mußte.
»Ich hasse die Vorstellung, daß alles, was geschieht, nur
darauf zurückzuführen ist, was uns andere angetan haben«,
sagte Anna bedrückt. »Es nimmt uns alles aus den Händen,
es erklärt nicht im mindesten die vereinzelten Heiligen und
Teufel, die unter uns sind, und was am wichtigsten ist,
im Grunde meines Herzens glaube ich, daß es nicht der
Wahrheit entspricht. Aber in Büchern wie denen von Paul
Sheldon, da macht es sich gut. Es ist tröstlich. Man kann
zumindest eine Weile glauben, daß Gott nicht geisteskrank
ist und den Menschen in der Geschichte, die man mag, nichts
Böses zustößt. Kann ich mein Buch wiederhaben? Ich werde
es heute abend zu Ende lesen. Und jede Menge heißen Tee
dazu trinken. Literweise.«
Rosie lächelte, und Anna lächelte zurück.
»Du kommst zum Picknick, Rosie, oder nicht? Es findet am
Ettinger’s Pier statt. Wir können jede Hilfe gebrauchen. Wie
immer.«
»Oh, darauf
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