Das Bild
können Sie sich verlassen«, sagte Rosie. »Das
heißt, wenn Mr. Lefferts nicht glaubt, daß ich ein Wunderkind bin, und mich auch samstags arbeiten läßt.«
»Das bezweifle ich.« Anna stand auf und kam um den
Schreibtisch herum; Rosie stand ebenfalls auf. Und nun, wo
ihre Unterhaltung fast zu Ende war, fiel ihr die wichtigste
Frage von allen ein.
»Wann kann ich einziehen, Anna?«
»Morgen, wenn du möchtest.« Anna bückte sich und hob
das Bild hoch. Sie studierte nachdenklich die mit Kohle
geschriebenen Worte auf der Rückseite, dann drehte sie es
um.
»Du hast gesagt, es ist seltsam«, sagte Rosie. »Warum?«
Anna klopfte mit einem Fingernagel auf die Glasplatte.
»Weil die Frau in der Mitte steht und uns trotzdem den
Rücken zuwendet. Das scheint mir höchst ungewöhnlich für diese Art von Bild, weil es sonst ziemlich konventionell ausgeführt ist.« Nun sah sie Rosie an, und als sie
fortfuhr, klang ihre Stimme rechtfertigend. »Bei dem Gebäude am Fuß des Hügels stimmt übrigens die Perspektive
nicht.«
»Ja. Das hat auch der Mann gesagt, der mir das Bild verkauft hat. Mr. Lefferts sagte, daß das wahrscheinlich absichtlich so gemacht wurde. Sonst würden einige der Elemente
verlorengehen.«
»Ich nehme an, das stimmt.« Sie betrachtete es noch ein
paar Augenblicke. »Aber es hat etwas, nicht? Eine unheilschwangere Atmosphäre.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Anna lachte. »Ich auch nicht… aber es hat etwas an sich,
bei dem ich an meine Liebesromane denken muß. Starke
Männer, lüsterne Frauen, überschäumende Hormone. Unheilschwanger ist das einzige Wort, das mir einfällt, mit dem
ich auch nur annähernd beschreiben kann, was ich meine.
Die Ruhe vor dem Sturm. Wahrscheinlich liegt es nur am
Himmel.« Sie drehte den Rahmen wieder um und studierte
die Worte auf der Rückseite. »Hat das zuerst deine Aufmerksamkeit erweckt? Dein eigener Name.«
»Nee«, sagte Rosie, »als ich das Rose Madder auf der Rückseite sah, wollte ich das Bild schon kaufen.« Sie lächelte. Ich
schätze, das ist nur Zufall - wie es sie in den Liebesromanen
nicht gibt, die du so gerne liest.«
»Ich verstehe.« Aber Anna sah nicht so aus, als verstünde
sie es wirklich. Sie strich mit dem Daumen über die Blockbuchstaben, die leicht verschmierten.
»Ja«, sagte Rose. Plötzlich fühlte sie sich aus einem unerfindlichen Grund sehr nervös. Es war, als hätte irgendwo in
der anderen Zeitzone, wo es gerade Abend wurde, ein Mann
an sie gedacht. »Schließlich ist Rose ein ziemlich häufiger
Name - nicht wie Evangeline oder Petronella.«
»Da hast du wohl recht.« Anna gab ihr das Bild zurück.
»Aber es ist trotzdem komisch, daß er mit Zeichenkohle
geschrieben ist.«
»Wieso?«
»Kohle verschmiert leicht. Wenn sie nicht abgedeckt wird und das sind die Worte auf der Rückseite deines Bilds nicht -,
verschwindet sie in kurzer Zeit völlig. Die Worte Rose Madder müssen erst vor kurzem auf die Rückseite geschrieben worden sein. Aber warum? Das Bild selbst sieht nicht gerade neu
aus; es muß mindestens vierzig Jahre alt sein, möglicherweise achtzig oder hundert. Und noch etwas ist seltsam
daran.«
»Was?«
»Es ist nicht signiert«, sagte Anna.
IV
Der Teufelsrochen
1
Norman verließ seine Heimatstadt am Sonntag, dem Tag, bevor
Rosie ihren neuen Job antreten sollte … obwohl sie immer noch
nicht überzeugt war, daß sie dafür geeignet war. Er fuhr mit dem
Continental Express Bus um 11:05 Uhr. Das war keine Frage des
Geldes; es schien lediglich wichtig - lebenswichtig - zu sein, daß
er sich in Rose hineinversetzte. Norman wollte sich immer noch
nicht eingestehen, wie tief ihn ihre unerwartete Flucht erschüttert
hatte. Er redete sich ein, daß er wegen der BankCard außer sich
war - nur deswegen, nichts sonst -, aber im Grunde seines Herzens
wußte er es besser. Es war, weil er keinen blassen Schimmer gehabt
hatte. Nicht einmal eine Vorahnung.
Lange Zeit hatte er in ihrer Ehe stets genau gewußt, was sie
dachte, und meistens auch, was sie träumte. Die Tatsache, daß sich
das geändert hatte, machte ihn verrückt. Seine größte Angst - die
er sich nicht eingestehen wollte, aber auch nicht vollkommen aus
den tieferen Strömungen seines Denkens vertreiben konnte - war
die, daß sie ihre Flucht womöglich wochen- oder monatelang
geplant hatte, vielleicht sogar ein ganzes Jahr. Hätte er gewußt,
warum und wie sie fortgegangen war (hätte er, mit anderen Worten, von dem einen Tropfen Blut gewußt), wäre ihm das
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