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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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später führen sie
wieder los, und Norman saß mit dem Buch auf dem Schoß da und
sah, wie die Felder immer weiter wurden, je mehr der Osten das
Land aus seinem Griff freigab. Als der Fahrer sagte, daß es Zeit
wäre, die Uhren umzustellen, tat er es, freilich nicht, weil ihn Zeitzonen auch nur einen Scheißdreck gekümmert hätten (die nächsten
dreißig Tage oder so würde er seiner eigenen Uhr folgen), sondern
weil Rose es mit Sicherheit getan hatte. Er nahm das Buch in die
Hand, las über einen Vik ar, der eine Leiche in seinem Garten fand,
und legte es gelangweilt wieder weg. Doch das war nur an der
Oberfläche. Darunter war er ganz und gar nicht gelangweilt. Darunter fühlte er sich auf seltsame Weise wie Goldlöckchen in der
alten Kindergeschichte. Er saß auf dem Stuhl von Baby-Bär, er
hatte das Buch von Baby-Bär auf dem Schoß, und er wollte das
kleine Häuschen von Baby-Bär finden. Und wenn alles nach Plan
verlief, würde es nicht mehr lange dauern, bis er unter dem kleinen
Bettchen von Baby-Bär lag.
»Wenn du es am wenigsten erwartest«, sagte er. »Wenn du es
am wenigsten erwartest.«
Er stieg in den frühen Stunden des nächsten Morgens aus dem
Bus aus, blieb gleich neben der Tür stehen, ließ den Blick durch die
hohe Schalterhalle schweifen und bemühte sich, die Zuhälter und
Huren, die Stricher und Bettler nicht mit den Augen eines Cops zu
sehen, sondern so, wie sie sie gesehen haben mußte, als sie um dieselbe Zeit aus demselben Bus ausgestiegen war und dieselbe Schalterhalle gesehen hatte - zur selben Stunde, wenn die menschliche
Natur stets ihren Tiefpunkt erreicht hat.
Er stand da und ließ die hallende Welt in sich einströmen: Wie
sie aussah, roch, schmeckte und sich anfühlte.
Wer bin ich? fragte er sich.
Rose Daniels, antwortete er.
Wie fühle ich mich?
Winzig. Hilflos. Und ängstlich. Das ist im Augenblick das
Wichtigste. Ich bin durch und durch ängstlich.
Einen Augenblick überwältigte ihn eine gräßliche Vorstellung:
Was wäre, wenn Rose in ihrer Angst und Panik die falsche Person
angesprochen hatte? Das war nicht unmöglich; für eine bestimmte
Sorte übler Typen waren Orte wie dieser regelrechte Fischgründe.
Was wäre, wenn die falsche Person sie ins Dunkel geführt, ausgeraubt und getötet hatte? Es hatte keinen Sinn, sich einzureden, daß
das unwahrscheinlich war; als Polizist wußte er es besser. Wenn
ein Crackhead zum Beispiel ihren albernen Verlobungsring sah …
Er holte mehrmals tief Luft, nahm sich zusammen und konzentrierte sich wieder mit dem Teil seines Verstands, der versuchte,
Rose zu sein. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wenn sie ermordet worden war, war sie eben ermordet worden. Daran könnte er
nichts ändern, also war es am besten, wenn er gar nicht darüber
nachdachte… und außerdem, er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie ihm auf diese Weise entkommen sein könnte, daß ein
zugeknallter Nigger etwas genommen haben könnte, das Norman
Daniels gehörte.
Vergiß es, sagte er zu sich. Vergiß es, tu deinen Job. Und im
Augenblick besteht dein Job darin, wie Rosie zu gehen, wie
Rosie zu sprechen und wie Rosie zu denken.
Er ging langsam in die Schalterhalle, hielt seine Brieftasche in
der Hand (das war sein Ersatz für ihre Handtasche) und betrachtete die Leute, die an ihm vorbeiströmten, manche mit Koffern, die
sie zogen, manche mit zugeschnürten Pappkartons auf den Schultern, manche mit den Armen um die Schultern ihrer Freundin oder
die Taille ihres Freunds. Vor seinen Augen lief ein Mann auf eine
Frau und einen kleinen Jungen zu, die gerade aus Normans Bus
ausgestiegen waren. Der Mann gab der Frau einen Kuß, dann
schnappte er sich den Jungen und warf ihn hoch in die Luft. Der
kleine Junge kreischte vor Angst und Freude.
Ich habe Angst - alles ist neu für mich, alles ist anders, und
ich stehe Todesängste aus, sagte Norman Daniels sich. Gibt es
etwas, dessen ich sicher sein kann? Etwas, dem ich trauen
kann? Irgend etwas?
Er ging über den breiten Fliesenboden, aber langsam, langsam,
lauschte dem Geräusch seiner Schritte und versuchte, alles durch
Roses Augen zu sehen, alles durch Roses Haut wahrzunehmen. Ein
rascher Blick zu den Jungs mit den glasigen Augen (bei einigen
war es nur die Müdigkeit um drei Uhr morgens; bei einigen war es
Nebraska Red) in der Nische mit den Videospielen, dann wieder zur
Schalterhalle. Sie sieht die Reihe der Münzfernsprecher, aber wen
sollte sie anrufen? Sie hat keine Freunde, keine Familie - nicht einmal die

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