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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sprichwörtliche alte Tante in der Wüste von Texas oder den
Bergen von Tennessee. Sie sieht zur Tür auf die Straße hinaus und
überlegt sich vielleicht, ob sie hinausgehen und sich ein Zimmer für
die Nacht suchen soll, damit sie eine Tür zwischen sich und der
großen, verwirrenden, gefährlichen Welt zuschlagen kann - dank
seiner BankCard hat sie ja genügend Geld für ein Zimmer -, aber
macht sie es wirklich?
Noman blieb stirnrunzelnd am Fuß der Rolltreppe stehen und
stellte die Frage anders: Mache ich es?
Nein, entschied er, ich nicht. Zunächst einmal will ich nicht
um halb vier Uhr morgens in ein Motel, wo sie mich um
zwölf wieder rausschmeißen; auf diese Weise bekomme ich
nichts für mein Geld. Ich kann noch etwas länger wach bleiben, meine Nerven noch ein wenig länger strapazieren,
wenn es sein muß. Aber noch etwas anderes hält mich hier:
Ich bin in einer fremden Stadt, und es dauert noch mindestens zwei Stunden bis zur Dämmerung. Ich habe eine
Menge Krimiserien im Fernsehen gesehen, ich habe eine
Menge Kriminalromane gelesen, und ich bin mit einem Cop
verheiratet. Ich weiß, was einer Frau zustoßen kann, die sich
bei Dunkelheit allein hinauswagt, darum denke ich, ich
warte bis Sonnenaufgang.
Also, was mache ich? Wie vertreibe ich mir die Zeit?
Sein knurrender Magen beantwortete die Frage für ihn.
Ja, ich hole mir etwas zu essen. Die letzte Rast war um
sechs Uhr abends, und ich habe ziemlichen Hunger.
Nicht weit vom Fahrkartenschalter entfernt war eine Cafeteria,
und dorthin ging Norman, stieg über die Penner und unterdrückte
den Wunsch, ein paar häßliche, verlauste Köpfe gegen den nächstbesten Metallstuhl zu treten. Das war ein Wunsch, den er neuerdings immer häufiger unterdrücken mußte. Er haßte Obdachlose;
betrachtete sie als Hundescheiße auf zwei Beinen. Er haßte ihre
winselnden Entschuldigungen und ihr albernes Getue, wenn sie
einen auf unzurechnungsfähig machten. Als einer, der nur halb im
Koma lag, zu ihm gestolpert kam und ihn fragte, ob er etwas Kleingeld übrig hätte, konnte Norman kaum den Impuls unterdrücken,
den Penner zu packen und ihm auf altmodische Weise den Arm
auszukugeln. Statt dessen sagte er mit leiser Stimme: »Lassen Sie
mich bitte in Ruhe«, denn das hätte sie gesagt, und genau so hätte
sie es gesagt.
Er wollte sich Speck und Rührei von der Warmhalteplatte holen,
aber dann fiel ihm ein, daß sie das nicht aß, wenn er nicht drauf
bestand, was er manchmal tat (was sie aß, war ihm vollkommen
gleichgültig, aber es war wichtig, sehr wichtig, daß sie nie vergaß,
wer der Boss war). Statt dessen bestellte er Frühstücksflocken, eine
lauwarme Tasse Kaffee und eine halbe Grapefruit, die aussah, als
würe sie mit der Mayflower von England herübergekommen.
Nach dem Essen fühlte er sich besser, wacher. Als er fertig war, griff
er automatisch nach einer Zigarette, strich kurz über die Packung
in seiner Brusttasche, ließ die Hand aber wieder sinken. Rose
rauchte nicht, demzufolge würde Rose auch nicht das Verlangen
verspüren wie er jetzt. Als er einen oder zwei Augenblicke über das
Thema meditiert hatte, stellte sich das Verlangen wie erwartet wieder ein.
Als er die Cafeteria verließ, stehenblieb und sich mit der freien
Hand das Hemd am Rücken in die Hose steckte, sah er als erstes
einen großen, blau-weißen Kreis, in dem die Worte TRAVELLER’S
AID auf dem äußeren Streifen standen.
Plötzlich ging in Normans Kopf ein helles Licht an.
Gehe ich dorthin? Gehe ich zu dem Stand unter dem
großen, tröstlichen Schild? Glaube ich, daß das etwas für
mich ist?
Selbstverständlich - was sonst?
Er ging hin, aber auf Umwegen, zuerst an dem Stand vorbei und
dann wieder zurück, wobei er sich den Mann, der darin saß, genau
betrachtete. Er war ein Judenbengel mit spindeldürrem Hals, der
um die Fünfzig zu sein schien und etwa so gefährlich aussah wie
Bambis Freund Klopfer. Er las die Zeitung, die Norman als die Prawda identifizieren konnte, und ab und zu hob er den Kopf und warf
einen raschen, ziellosen Blick in die Schalterhalle. Hätte Norman
noch einen auf Rose gemacht, hätte Klopfer ihn zweifellos gesehen,
aber Norman machte wieder auf Norman, Detective Inspektor
Daniels im Einsatz, und das bedeutete, er verschmolz mit der Szenerie. Größtenteils schritt er im Halbkreis hinter dem Stand auf
und ab (es kam darauf an, in Bewegung zu bleiben; an Orten wie
diesem ging man kaum ein Risiko ein, entdeckt zu werden, wenn
man nicht stehenblieb), hielt sich so,

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