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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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seiner Beine. Matt Mitchell und seine Persönlichkeit haben den Ballon durchbohrt, der dennoch heil und gesund bleibt.
    Nicht mal ein Tropfen Blut.
    Vielleicht ist ihm dieser unfassbare Erfolg zu Kopf gestiegen, jedenfalls kommt Mitchell von der Bühne herab und geht zwischen seinen Zuschauern umher, erzeugt leichte Wellen des Unwohlseins – sie hätten ihn lieber ordentlich weit weg. Er streckt unelegant die Hand aus und zieht eine junge Dame von ihrem Sitz. Sie ist eindeutig fitter und dreißig Jahre jünger als fast der ganze Rest des Publikums und geht wie eine Tänzerin von der Sorte, wie sie in einer Revue zur Ankunft in New York auftreten könnte, Szenen aus populären Musicals, auf genau so einer Bühne, vielleicht morgen Abend.
    Matt führt also seine kein bisschen verdächtige Begleiterin auf die unruhige Bühne, grinst und deutet Beifallklatschen an, bis er endlich mit einem Ausbruch erleichterten Applauses belohnt wird: Er ist wieder da, wo er hingehört, die Show ist nicht mehr bedrohlich. Ein Bühnenarbeiter schiebt eine unglaubwürdig aussehende Truhe aus den Kulissen, die mit einem gelben Tuch bedeckt ist.
    Die Verwandlung – das wird also sein Finale: ein Trick, der schon langweilig war, als sein Großvater aus irgendeinem Varieté rausmarschiert ist, wo er gezeigt wurde, weil er so SCHEISSLANGWEILIG war.
    Wenn sein Großvater sich denn für Zauberei interessierte – irgendwer in seiner Familie sollte immerhin …
    Oder auch nicht – so ein Interesse ist für gutgehende Beziehungen scheinbar nicht gerade förderlich.
    Matt rupft das Tuch unbeholfen weg – es ist an einer kurzen Seite mit einer Stange versteift – und zeigt die Truhe seiner Assistentin, die davon so verblüfft ist wie die Frauen in schlechten Pornos von eigener und anderer Nacktheit: leicht verzögert große Augen machen. Dann nimmt er einen Samtsack aus der Truhe und wedelt damit vor ihr herum. Er weist sie laut und deutlich an – so wie man mit einer senilen Verwandten oder einem Welpen reden würde – diesen Sack aufzuhalten, wenn er hineinsteigt, und ihn dann um seinen Hals zuzuziehen, ehe sie den Deckel der Truhe fest über ihm zuklappt und dann sicher verschließt.
    Arthur hat mir mal einen Vibrator geschenkt, der mit einem schwarzen Samtbeutelchen zum Aufbewahren verkauft wurde – genau wie Matts Sack – Entschuldigung für die Doppeldeutigkeit – mit Kordel zum Zuziehen. Sie war kleiner – aber trotzdem auch ein Behälter für einen Schwanz – allerdings einen falschen Schwanz, keinen Schlappschwanz.
    Das war in einem der Londoner Hotels – direkt an The Strand. Das Fenster in unserem Zimmer ging auf etwas Weißes hinaus – eine Art Lichtschacht, weißgekachelt – und er war vorher in einem Sexshop gewesen, hatte dämliches Zeug gekauft, war in seltsamer Stimmung: »Du könntest das mitnehmen und an mich denken. Ich weiß ja, mich wirst du nicht mitnehmen.«
    Fair ist er nie.
    Ich aber auch nicht.
    Die Assistentin folgt den Anweisungen und stellt sich auf die verschlossene Truhe. Sie hält das gelbe Tuch vor sich, als hätte das Publikum sie beim Baden überrascht. Sie versucht, verwirrt, nervös und sexy auszusehen – doch schon jede einzelne dieser Anforderungen übersteigt ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Sie hebt das Tuch. Der Stab im Saum macht es zu einem Vorhang, der breit genug hängt, um die Truhe, ihre Beine, ihren Körper und Kopf zu verdecken. Sie hält die Arme hoch und schwankt auf Zehenspitzen mit dem allgemeinen Schaukeln des Schiffs und allem anderen hin und her. Einen Moment lang ist nur das Tuch zu sehen.
    Eine synthetische Melodie erklingt. Sie wird lauter und immer unerträglicher.
    Und jeder möchte hinter das Tuch schauen. Wir können nicht anders – wir sind alle sicher, werden immer überzeugt sein, dass etwas Wunderbares dahinter ist. Wird es dann enthüllt, ist es nie ganz so wunderbar, aber nächstes Mal – dann wird man staunen. Nächstes Mal wird es ein wunderschönes Geheimnis sein.
    Körper unter Laken – verdecken wir deshalb unsere Toten? Damit vielleicht etwas Magisches passiert, und wenn wir das Tuch wegziehen und sie anschauen, werden sie unseren Blick erwidern – wiederhergestellt?
    Der Vorhang wird fallen gelassen, und – Simsalabim – Matt steht, wie erregend, auf der Truhe. Und noch erregender: Als er selbige Truhe aufschließt, steckt seine Assistentin darin und ist in den Sack geschnürt. Unter den Applaus mischen sich Pfiffe und Jubelrufe, und Matt beugt

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