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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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beträchtlichen – und später katastrophalen – Anstoß zu erregen, und außerdem hatten sie gehofft, sportlich, umgänglich, galant zu wirken, und dazu sollte man eher nicht ältere Damen bewusstlos schlagen – das Leben kann so kompliziert sein …
    Und wir alle stolpern also miteinander dahin, umklammern unsere orange leuchtenden Schwimmhilfen, als wären es Brieftaschen, kleine Kätzchen oder Kinder, und sind gefangen in so einer großen, zähen, träumerischen Unfähigkeit, uns selbst zu retten.
    Und selbst, als wir zu unserem Sammelpunkt tröpfeln – das geschmackvoll hergerichtete Theater: gute Laune von der Bühne wie zu Kriegszeiten, Ratschläge von Passagieren, die mal in der Marine waren, dass man vor dem Sprung ins Wasser einen Pullover und zwei paar Socken anziehen solle: Man möchte ja gemütlich warm ertrinken, nicht frierend – selbst da dauerte es noch eine halbe Stunde, bis alle Teilnehmer ihre Rettungswesten tatsächlich über den Kopf bekommen hatten.
    Wir würden sterben.
    Wir würden aus schierem Unvermögen einen grauenhaften Tod sterben.
    Wir hätten es verdient, keiner würde uns nachtrauern. Wir sind eindeutig zu nichts nütze.
    Und ich, ich versuchte mich zu erinnern, ob es die Unterarme oder die Hinterbacken der unglücklichen Mitopfer waren, die man als im offenen Boot dahintreibender, verhungernder Schiffbrüchiger verzehren sollte.
    Aber so weit würde es gar nicht kommen: Wir würden alle in den Wellen schaukeln und uns aufblähen, niemand würde übrig bleiben, von uns zu naschen.
    Herrgott.
    Man darf gar nicht dran denken.
    Also werde ich es auch nicht tun.
    Würde es lieber nicht tun.
    Unterarme und Hinterbacken von Frauen – ich glaube, das wird empfohlen.
    Unglücklicherweise habe ich beides – alle vier.
    Man stelle sich vor.
    Keine Ahnung, was ich täte, um zu überleben, um am Leben zu sein und zu bleiben.
    Unter ihr, jenseits des Geländers, liegen geschichtet die Ränder der anderen Balkone, und dicke Reihen von Plastikhülsen, die sich bestimmt, nimmt sie an, auf erschreckende Weise ausdehnen und in, betrachtet man die vielfältigen Unfähigkeiten der Passagiere, relativ zwecklose Rettungsboote verwandeln werden, sollte es nötig werden. Hier und da sieht man auch die ruhige Metallaußenwand des Schiffes. Außerhalb ihres Sichtfeldes muss die ins Wasser abfallen, weit unten verschwinden, schräg durchs kalte Dunkel führen, bis sie ihr Gegenstück trifft, sich faltet und verschließt zur harten Unterkante eines Kiels. Um sie herum breiten sich ihre gelblich ausströmenden Lichter über das sanft vorbeiströmende Wasser aus: ein achtloser Nimbus, der sich in die Nacht ergießt und das weiße Glänzen zeigt, wo sie die Haut des Wassers durchschneiden.
    Eine Weile schon dämmerte es ihr, dass irgendwo ein Orchester vehement Blasinstrumente spielte – da war der Kai noch sicher mit ihnen vertäut gewesen, Uniformen und ein schmissiger Marsch hätten vielleicht als passende Abschiedsgeste erscheinen können. Sie war nicht sicher, was sie gehört hatte, weil über ihr weiterhin Detonationen zu hören waren. Und der Wind frischte auch auf – so sehr, dass er Geräusche zerzauste, unzuverlässig klingen ließ. Aber jetzt hat die Musik ohnehin aufgehört – sie haben sie hinter sich gelassen. Sie nimmt allerdings an, dass der Pianist, den sie gehört haben, als sie an Bord schlenderten, immer noch spielen dürfte, oder vielleicht von anderen Musikern und Instrumenten abgelöst wurde, vielleicht von einer Harfe. Sie ist sicher, dass irgendwann eine Harfe auftauchen wird. Und auf breiten Decks mit weichen Teppichen zwinkern Spielautomaten neben grünen Filztischen, die aufregende Verluste versprechen, und es gibt Bars und Lounges, das Theater, eine ganze Reihe anregender Vorträge und Lehrstunden, alle möglichen Unterhaltungen, und dazu die Restaurants und die winzigen, teuren Geschäfte, und die Therme, und natürlich auch die Bibliothek – momentan geschlossen, aber auf zwei Etagen, verbunden durch eine Wendeltreppe, das muss doch auch etwas wert sein – kurz gesagt, sie hat das überwältigende Gefühl, in eine Umgebung für Menschen geraten zu sein, die schreckliche Angst davor haben, sich selbst überlassen zu werden.
    Aber Elizabeth bleibt gern sich selbst überlassen.
    Manchmal.
    »Sie hat also Geld. Margery.« Derek taucht auf, lehnt sich neben ihr ans Geländer, schiebt ihr den Arm um die Hüfte und schmiegt sich an – sie spürt die harte Form seiner Hüfte.

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