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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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sehr wahrscheinlich, dass nichts ihr etwas bedeutet außer dem Schal.
    Karkadenrot, Hibiskusrot – unpraktischer, synthetischer Chiffon – die Hand berührt ihn oft – Bedrohung des Halses – Erinnerung an die Bedrohung des Halses – ein Knoten, eine Furcht, ein Ersticken im Hals, das aus Worten besteht, die man unmöglich schlucken und unmöglich herausschreien kann.
    Aber das ist in Ordnung.
    Ich beschäftige mich nur mit dem Unmöglichen.
    Das mag ich.
    Rot um den Hals gebunden, mehrmals herum. Aber kein Blut. Für sie ist es kein Blut – eher so etwas wie Geben, Teilen, erinnerte Leidenschaft, Formen von Wärme – etwas Sanftes nah an ihren Lippen, ich kann sehen, wie sie es beinahe schmeckt, eine Art Antwort – und es ist nicht Hitze, sondern vor allem Wärme, das ist ein Unterschied, ein dauerhafteres Durchdringen.
    Sie hat kluge Finger – das können wir teilen, müssen wir nicht übersetzen – doch ihr Tastsinn hat Sicherheit verloren – ist erblindet – also denk an Handschuhe, das Tragen von Handschuhen, ständig gedämpft – und sie ist ziellos.
    Was hat Berühren für einen Sinn, wenn das, was man berühren möchte, nicht mehr da ist.
    Das Haar zu einem Flaum gestutzt, der Schädel nicht mehr verborgen – eine wunderschöne Kurve, doch es ist eine abgetötete Schönheit. Es drängt sie nach Einfachheit, nach Schrubben und Strafen – kein Neuanfang, sondern das Erstarren im Nichts. Nicht mehr verstecken, weil man sich nirgendwo mehr verstecken kann. Keine Kopfbedeckung. Es ist bitterkalt draußen, aber keine Mütze.
    Kein Verstecken.
    Aber einmal hat sie sich versteckt, oder? Agathe hat versucht, sich zu verstecken, und das war schlecht. Sie war schlecht. Aber dafür ist noch Zeit genug …
    Ihr Mund war gewohnt zu lächeln: Insgesamt hat sie ein Gesicht, das sich früher einmal wohl fühlte, das offen war, bereit, Intelligenz und Charme zu zeigen.
    Charme ist selten und sollte nie ausgelöscht werden.
    Intelligenz ist noch seltener, aber auch schwerer zu mögen, und sie ist intelligent – sie ist klug, strahlend klug.
    Auch albern, sie konnte albern sein, konnte spielen – erotisches Spiel und schieres Blödeln. Ich hätte Freude an ihr gehabt. Wir hätten flirten, uns unterhalten können.
    Sie hätte viel gelacht und sehr wahrscheinlich dabei leise in die Hände geklatscht. Sie hätte die Lippen bedeckt, ihr Grinsen einen Augenblick abgeschirmt, und es genossen, eine winzige Grenze überschritten zu haben.
    Sie hat es nicht geschafft, ihre Augen zu verändern – sie sind immer noch herausfordernd, neugierig. Sie schauen zu viel – fast eine Form der Selbstverletzung. Sie lernt, sie zu zügeln, sich auf Tischbeine, Bürgersteige, Fußböden zu konzentrieren, sich wie ein Flüchtling zu benehmen. Aber sie hat mutige Augen, das ist unumkehrbar.
    Mutig und müde, müde, müde – sie kann dem, was die Augen sie zu sehen zwingen, nicht länger trauen. Sie sind zu viel für sie.
    Aber ich nicht.
    Ich bin hier – hier bei den überteuerten Keksen und dem übersüßten Aromasirup – Symptome des abgesicherten Großstadtlebens, dieser masochistische Drang, zu viel für Mist auszugeben. Wir werden ständig überredet, Sachen zu kaufen, die uns nicht guttun.
    Agathe hat mich gekauft.
    Sie hat um mich gebeten.
    Sie bekommt, worum sie gebeten hat, was sie will. Sollte man auch.
    Das hatte sie ihm am Telefon erzählt – sehr leise, aber präzise – dass sie ihn treffen und ausprobieren wollte.
    Er hatte nicht nach ihr geschickt, sie hatte gebeten.
    Und dann hatte er an jenem ersten Nachmittag den Kopf gehoben, so dass sie ihn finden konnte, und hatte sich ruhig hingesetzt, seine ganze Kraft auf Ruhe und Entspannung und sanftes Atmen und abgewendete Blicke gerichtet. Er hatte die Hand ausgestreckt und sich dem Puls und Takt angepasst, in dem Agathe Agathe ist.
    Das ist etwas Tierisches, eine Sache der Wildnis – Fleisch antwortet auf Fleisch und übernimmt die Führung, das Gefühl starker Verteidigung – oder Kind und Elternteil, Elternteil und Kind, das Zuhause, das sie miteinander bilden – das hat mit Sex zu tun und mit dem geteilten Willen, eine menschliche Sache, eine Sache der Erholung: Es ist kommt her zu mir alle, und ich will euch erquicken . Es ist Erleichterung.
    Wie immer fühlte sich das an wie Hunger und Freiheit und Finden und Tragen und Rennen und Tanzen und Brennen und Haben und Lachen und Sex und Sich-gegen-die-Flut-stemmen, die sie selbst ist, die gegen seine Brust

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