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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Schäbiges. Es gab Zeiten, da hat er die 10/11-Kraft mit Tarot-Karten aufgeboten, solcher Illusionisten-Quatsch – man hätte ihm den Hintern versohlen sollen.
    Jetzt hält er sein Herz an.
    Das hat er für Agathe getan: ihr einen umgekehrten Tod geschenkt. Nichts Großspuriges, nur ein ausreichendes Anhalten, kein Prahlen. Sie musste gespürt haben, wie er langsamer wurde, dann ganz aufhörte, schließlich wieder anfing. Und es hätte auch gar nicht unwahrscheinlich gewirkt: Er sieht im Allgemeinen wie der Tod selbst aus, ziemlich furchtbar.
    Scheißkopfschmerzen die ganze Zeit.
    Er hatte auf das Hilfsmittel gedrückt, sein Blut anscheinend stocken und anhalten lassen, und dann hatte er ihr erlaubt, seine Absichten zu erforschen, Auge in Auge. Er öffnete sich für sie, ließ sie hineinspähen. Und dann lockerte er den Druck an seinem Arm, stellte seinen Puls wieder her, stotternd, stockend, zu ihr strebend. Danach hatten drei abschwellende Tabletten und sein Mangel an leistungsfähigem Blut für heftiges Herzklopfen gesorgt, das man nicht vortäuschen kann – es sei denn, man weiß, wie es geht.
    Und dann das Geschenk.
    Er hatte ihr Guillaume gebracht.
    Er hatte ihren Mann herbeschworen, hatte Guillaume mehr als überzeugend gemacht, hatte ihn ihr Lächeln finden lassen – das schönste und zarteste Lächeln der frühen Liebe. Der Mann gab Agathe haargenau das, was ihr Mann ihr gegeben hätte, wenn er noch existierte und kein Unsinn wäre und tatsächlich aus dem Jenseits zurückkehren könnte. Der Mann ließ Guillaume vergeben, vergeben und vergeben.
    Agathe hatte diesen einen starken Schutzwall.
    Nicht mehr.
    Und heute wird Agathe die Mishinana tragen, die ihr der Mann gekauft hat – karkadenrot – und zusammen werden sie es vor morgen früh beenden.
    Als sie ihre Schlafzimmertür geöffnet hat, hält sie inne, bleibt stehen und ist schön, und weiß es auch beinahe. Der Stoff ihres Kleides fällt günstig – die Tradition gibt den Blick auf ihre unversehrte Seite frei und verbirgt die beschädigte Schulter, das verkürzte Glied.
    Der Mann plaziert sie am Tisch, aufmerksam und geschmeidig wie ein Oberkellner, dann zündet er die letzte Kerze an – hibiskusrot – schaltet die Lampen aus und setzt sich ihr gegenüber.
    Er verwendet immer drei Kerzen: die schwarze, die weiße, die rote. Die Fragenden entscheiden über die Bedeutung einer jeden Farbe, über eine logische Ordnung. Nur sehr wenige wählen Rot als letztes.
    Mutige Augen, mutig bis ins Mark.
    Kein Essen oder Trinken, für keinen von uns beiden – nur dies.
    Er legt beide Unterarme flach auf die Tischplatte, gestattet ihr, es ihm nachzutun, und sagt: »Mwaramutse.«
    Kinyarwanda – das habe ich noch bei niemandem sonst gebraucht. Hübsche Aufgabe, sich das anzueignen – verleiht zusätzliche Tiefe, lässt sich vielleicht in Zukunft wieder verwenden – Gott weiß, es gibt dort genug Witwen … Und es hat ihr gefallen, es auszusprechen, hat ihr ein klein wenig Freude gemacht. Darauf bin ich ein bisschen stolz.
    »Ist es noch Morgen?« Sie riecht nach Rosen. Sie setzt sich richtig hin, erwidert seinen Blick. Diesmal bittet sie um alles – alles, was er noch tun kann.
    Und das wird der endgültige Abgang und der Neubeginn sein.
    Der Abgang ist einfach – das Neuanfangen ist unerträglich, der Entschluss, wieder ins Leben hinauszugehen, das viel verspricht und dann scheitert.
    Früher habe ich gesagt, ich würde ihnen Hoffnung geben – aber damit sollte niemand fertigwerden müssen.
    Dennoch sagt er: »Es ist ein anderer Morgen. Der letzte Tag. Amakuru?«
    »Mir geht es gut, danke.«
    »Wir haben die Nacht überstanden.«
    »Wir haben die Nacht überstanden.« Ihre Stimme ist tiefer, ihre Worte langsamer als bei ihrer Ankunft, sie wirken jünger, näher, entspannt und ungehemmt, wenn sie ihre Lippen berühren. »Wir haben die Nacht überstanden.«
    In der Nacht rannten die jungen Männer und spielten mit ihren sausenden, ausgegrabenen Klingen, ihrem aufgestauten Willen, die Inyensi , die Ibyitso , die Komplizen der Rebellen, die Inkotanyi auszumerzen. Sie richteten Straßensperren ein, an denen niemand vorbeikam, stellten Fallen, die mit Leichen verstopften, mit atmenden Haufen, Körperteilen. Sie verwüsteten. Sie nahmen Nachbarn und Lehrer, Radiosprecher, Politiker, Ladeninhaber, Journalisten, alle, die das Zeichen trugen, die als Kollaborateure aufgelistet waren, als Kakerlaken, als Gemäßigte, als Bedrohung. Und die rennenden, spielenden

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