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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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einschlagen, in einem trostlosen, praktischen, beidhändigen Job glücklich werden können. Agathe ist nicht praktisch. Journalismus passte zu ihr: Ideen, Konzepte, geistige Disziplin, Enthüllungen und Gespräche, Gestaltung, Autofahrten, nächtliche Telefonate, ihr gedruckter Name – ihre Verfasserangabe verriet sie in jenen giftigen letzten Tagen an die Radiosender. Da machte sich die neue Sorte Journalisten an die Arbeit: von der Sorte, die Mörder anleitet und sie dann von der Leine lässt – und die wollten sie. Sie wollten jeden. Bei RTLM waren sie bereit: Sie nagelten sie auf Sendung mit ihrem Mann fest. Sie schafft es nicht, die jugendlich fröhliche Musik, die frischen Stimmen zu vergessen – Georges Ruggiu, Valerie Bemeriki – die ganzen wissenden, überzeugenden Stimmen, gebieterische Drohungen, erregende Drohungen, die schreckliche, beschissene Energie der Drohungen – blutige Drohungen, sexuelle Drohungen, Junge-Männer-Drohungen. An manchen Tagen sah sie die Drohungen wie öligen Rauch die Luft über ihr verschatten.
    Sie sendeten nur etwas mehr als ein Jahr lang, ihr Einfluss war bemerkenswert. Und was man ihre Produktivität nennen könnte, war höchst beeindruckend. Aber es war eben auch ein höchst produktiver Völkermord – effizient jenseits aller Vorstellungskraft.
    Die Mordraten sind nie übertroffen worden.
    Noch nicht.
    Und die Briten taten genau was, um einzuschreiten? Verzögerungen unterstützen, Ausflüchte mittragen. Letztendlich haben wir ein paar Lastwagen hingeschickt. Alte Laster. Fünfzig Stück. Um ein ganzes Land zu retten. Alle Mechanismen haben langsam versagt. Unerträglich. Man darf nicht drüber nachdenken.
    Aber ich denke drüber nach. Ertragen ist mein Job.
    Ich ertrage das Nichts, Geister, Gedanken.
    Ein britischer Staatsbürger (ohne britischen Wohnsitz, kein Steuerzahler), der tut, was er kann.
    Um zu helfen.
    Um ihr zu helfen.
    Nachdem das Morden aufgehört hat.
    Mehr oder weniger aufgehört hat.
    Agathe war eindeutig nicht getötet worden. Sie war verstümmelt und vergewaltigt worden.
    Agathe hat überlebt, ein äußerst irreführender Begriff.
    Agathe kann langsam tippen, arbeitet freiberuflich, französische Texte, ein bisschen was auf Englisch. Sie schreibt, was sie kann, lässt sich zur Expertin für ganz Afrika machen, muss so tun, als sei es überall auf dem Kontinent grundsätzlich dasselbe. Sie kommentiert das Geschehen in Ruanda, schreibt über Präsident Kagame und darüber, wie viele potenzielle genocidaires man auswählen und umbringen kann, bevor man selbst ein genocidaire wird – darüber, wie das Gift immer noch die Erde aufwirft.
    Agathe weiß, sie hatte einen Sohn.
    Nicht mehr.
    Agathe weiß, sie hatte einen Mann.
    Nicht mehr.
    Agathe hatte diesen einen starken Schutzwall um ihre Trauer und um ihre Schuldgefühle errichtet, weil sie einmal langsam gewesen war, weil sie ihre Lage nicht begriffen hatte – sie war Journalistin gewesen, clever, aber sie hatte nicht richtig vorausgesehen, war keinem Akt des Terrors zuvorgekommen, hatte nichts gerettet.
    Und danach hatte Agathe beschlossen, dass niemand sie mehr in die Irre führen würde, dass sie bereit sein würde, obwohl sie glaubte, dass sie gar nicht leben sollte, dass jeder Atemzug unverzeihlich war. Sie hatte sich allein in ihrer Wachsamkeit und Sünde eingemauert.
    Also rief der Mann einfach nur ihren Schmerz aus, erstellte ihr ganz methodisch eine Liste, damit sie sich daran gewöhnen konnte, wie korrekt er war. Er murmelte nicht einmal gegen ihre Verteidigung an – er setzte sich einfach vor den Wall, streckte sich im Sonnenlicht und suchte in den Hosentaschen nach Erlösung, hielt sie warm in der Hand und zeigte sie ihr.
    Wenn sie es wollte, würde sie sich selbst für ihn aufbrechen und ihn hereinbitten.
    Letztlich tut es jeder.
    Denn wir alle brauchen Gnade, wie könnte es anders sein?
    Und ich habe die beste für sie, denn ich mache sie selbst.
    Handgefertigt für eine sorgsame Besitzerin.
    Gibt nichts Besseres.
    Und er hat ihre Finger fest auf sein Handgelenk gelegt, lässt sich von ihr halten, so dass sie bemerken muss, wenn er seinen Puls langsamer, flacher drückt, wenn er sein Herz zum Rasen, zum Zittern bringt. Gestern – sein Arm war hergerichtet und bereit – gingen sie ein Stück weiter. Es war nicht unbedingt ein billiger Trick, etwas ganz Klares, ein passender Zusatz, der das Vertrauen vertiefen würde – zum Schreiben mit Blut lässt er sich ja nicht herab, nichts

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