Das blaue Buch - Roman
hat. Anstand sollte belohnt werden.
Und wie gut, dass so etwas so verbreitet ist, so leicht zu erraten.
Wie gut, dass wir Menschen so verbunden sind, alle aus einem Holz.
Darum sollte ich am Ende nicht allein und kalt auf einem Hotelbett liegen.
Ich sollte nicht allein sein.
Ich sollte nicht ohne sie sein.
Das dürfte nicht passieren.
Außer dass es doch passiert.
Keine Worte können es aufhalten.
Und ich werde auf dem Bett liegen und allein und lebendig sein, aber nicht ganz.
Und mir wird bewusst sein, dass ich mich genauso hingelegt habe wie vorhin, bevor ich dem Publikum gab, was es wollte. Diese Kreisförmigkeit wird mir zu schaffen machen. Ich werde auf die Uhr schauen, es wird auf Mitternacht zugehen, niemand, den ich anrufen kann, niemand wird mich anrufen, also werde ich anfangen zu schreiben – Worte, die aus Buchstaben bestehen, die Werte haben, die Zahlen sind, die mir nichts nützen werden. Aber ich werde ihr dennoch schreiben – und ich werde auf Magie hoffen, dass sie das Papier dort berühren wird, wo ich es berühre, ich werde ihr meinen Wunsch sagen, meinen kleinen Wunsch, der mir versagt werden und mir nicht mal eine Antwort bringen wird.
Und nachdem ich es geschrieben habe und mir schlecht geworden ist, werde ich mein Versagen in einem Hotelumschlag versiegeln, und ich muss mit darinnen sein und zu ihr geschickt werden – damit sie mich aufheben, mich halten kann – doch stattdessen werde ich meinen Versuch zerreißen und wegwerfen. Könnte genauso gut mit den Toten reden.
Könnte genauso gut die Wahrheit sagen: dass ich die Toten bin, die sprechen – die schreiben.
Ich kann sagen, was ich will – sie wird nicht hören.
Und dann werde ich in den Spiegel starren und sehen, was er zeigt: sepiagetönt flutendes Licht und eine fremd gewordene Tapete, die älter wirkt, als sie sollte. Ich werde denken, ich könnte hier in die 1950er Jahre zurückschauen – nein, in die 1940er, ein nikotinfleckiges, harsches, an Verlust gewöhntes Zimmer. Ich habe keine Wahnvorstellungen, mir geht nur gerade auf, wie angemessen dieses Gefühl der Vierzigerjahre sein könnte – wie sie mir bei meiner Arbeit helfen könnten – und ich muss arbeiten, ich habe nur die Arbeit, und ich werde die Arbeit lieben, und die Arbeit wird mich nicht verlassen oder ungenügend, unbedeutend finden. Ich werde genug zu tun haben, mein eigenes Blut zu saugen, und ich werde nichts besitzen, weil nichts von Dauer ist, doch ich werde von Dauer sein – ich werde bis zum Tod zu tun haben – ich werde mit dem Tod zu tun haben – ich werde zu tun haben.
Und heute Abend werde ich mich rasieren – kein Kinnbart mehr, auch kein Schnauzer – morgen früh ein Façonschnitt bei irgendeinem traditionellen, billigen Herrenfriseur, und dann werde ich anfangen, einen Kleidungsstil zu improvisieren, der mich in einem sympathischen Jahrzehnt verortet – in einer Zeit, bevor ich sie kennenlernte, bevor ich geboren wurde, in einer Zeit für die Toten.
Ich werde er sein: der Mann, der vor dem Spiegel stehen, hineingehen und verschwinden konnte.
ELIZABETH CAROLINE BARBER denkt – heute ist mein Geburtstag, also sollte ich kriegen, was ich mag, das sollte passieren, nicht das hier, was mein Vater mag, was mein Vater immer mag – und meine Mutter lässt es ihm immer durchgehen: Sie sind nicht erwachsen.
Elizabeth ist zehn, also zweistellig, und das heißt, sie ist erwachsen. Zweistellig zu sein macht einen erwachsen, und nur unter großer Mühe und Willensanstrengung kann man diesen natürlichen Zustand in ein Durcheinander, etwas Geringeres verwandeln.
Ihre beiden Eltern – aber vor allem ihr Vater – geben sich ständig Mühe und strengen ihren Willen an.
Heute, inmitten all dieser ungebetenen Gäste – der zu vielen Gäste ihres Vaters – ist er derjenige mit dem glänzendsten, lockigsten Haar – schwarz, schwarz, schwarz – und den langen Armen – auch mit dunklem lockigem Pelz – und den leicht hochgezogenen Schultern, so als wäre er lange mit Wäscheklammern an der Jacke aufgehängt gewesen und könne sich nicht daran gewöhnen, wieder frei zu sein – als rechnete er damit, dass es wieder passiert.
Ihr Vater ist der Mann im schwarzen Anzug.
Einer der Männer im schwarzen Anzug.
Das Wohnzimmer erstickt momentan unter Männern in schwarzen Anzügen: Sie grinsen und lehnen sich an und stoßen gegeneinander, sie winken und gestikulieren, kratzen sich am Ohr, klopfen auf ihre Taschen, husten, sie bedecken alle
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