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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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bedeuten musste, dass ich ihn wiedersehen würde. Ich will ihn bereits wiedersehen, aber er gefällt mir nicht – es ist definitiv eher ein Bemerken als ein Gefallen.
    Nur dass ich wieder in seiner Nähe sein möchte, und dieses Aneinanderlehnen war nett, und Hand in Hand war nett, und vielleicht macht mich das auch nett – meine plötzliche Vorliebe für kleine, freundliche Gesten.
    Ich könnte nett mit ihm sein.
    Es ist ja nicht so, dass ich eigentlich bloß masturbieren will.
    Masturbieren wäre unanständig. Und dass es unanständig ist und mit ihm zu tun hat, macht es in keiner Weise attraktiver.
    Lieber Gott, was du dir selbst für einen unfassbaren Quatsch erzählst.
    Wenn du dich doch eigentlich bloß selbst befriedigen willst.
    Wenn du ihn in Gedanken schon vorhersagst, skizzierst, wie es ihm gehen mag, den billigen Hellseher spielst, wie wir es bei allen tun, die wir lieben – wir konstruieren uns, wie sie sind, wenn sie ohne uns sind, wie sie sein werden, wenn sie zurückkommen.
    Lebenslange Gewohnheit.
    Und die hat er noch schlimmer gemacht.
    Arthur, der auf zufälligen Partys auftauchte, auf manchen war er, auf manchen nicht – niemand schien ihn einzuladen, aber er kam trotzdem immer rein – und der anscheinend wusste, in welche Pubs ich ging, der dort herumhing, dann wegging und durch sein Verschwinden noch greifbarer wurde.
    Verfügbar sein, dann nicht mehr: das Auftauchen willkürlich scheinen lassen, ein ausgedehnter Kitzel – wirkt immer.
    Das hatte er sicherlich gemerkt, aber ich hatte nie das Gefühl, dass er mit mir spielte. Er beruhigte, machte uns beide arglos in unserem leicht hungrigen Zustand. Es war fast wie Freundschaft, so angenehm.
    Während ich – natürlich, absolut, so musste es sein – das Gleichgewicht des Schreckens studierte. »MAD – Mutually Assured Destruction«.
    Man könnte es nicht besser erfinden.
    Das war der Gegenstand meiner Doktorarbeit – großartiges Gesprächsthema, bringt jede Unterhaltung zum Erliegen, kann sogar ganze Zimmer leeren: Erzähl den Leuten einfach, du versuchst herauszufinden, wie man eine ganze Bevölkerung aus geistig gesunden und normalen Menschen dazu bringt, fröhlich mit dem Gleichgewicht des Schreckens zu leben und überzeugt zu sein, sie könnten jede Atomkatastrophe überleben – überzeugt, dass sie würden überleben wollen – wie man sie so optimistisch kriegt, dass sie glauben, wir könnten alles verändern oder überleben.
    Verdammt noch mal alles überleben. »Schützen und Überleben«: Hängt die Türen aus und versteckt euch darunter, steckt den Kopf in eine braune Papiertüte – als wäre man ein Pfund Äpfel. Monate habe ich mit diesen ganzen Lügen verbracht: die Informationsfilme zum Zivilschutz, die Pläne, die keinerlei Plan hatten. Schwache Bannsprüche, schlampiger Zauber.
    Und dann kam ich nach Hause, und womöglich war Arthur da, oder ich ging aus, und womöglich war Arthur da – und vielleicht war er zufällig in meinem Wohnzimmer, während ich mit ein paar Bekannten anschaute, wie die Berliner Mauer fiel und mich für andere Menschen freute, über eine gute Veränderung, eine herbeigebrachte Veränderung – das war Geschichte, und wenn ich mich daran erinnern würde, dann würde ich mich auch an ihn erinnern – das gibt eine schöne Geschichte für die Kinder, das Kind, das Hündchen, die Katze: Während wir noch nicht so richtig zusammen waren, wurde die Welt wach, zärtlich, veränderte ihre Träume.
    Wir blieben so lange unerotisch – was beinah erotischer ist als alles andere – und vielleicht hatte er das auch beabsichtigt, in den Nächten, in denen ich allein in mein Bett ging, nachdem wir geplaudert, uns ein wenig aneinandergelehnt hatten – vielleicht wusste er, in welchem Zustand ich sein würde, lag in seinem eigenen Bett und stellte Hypothesen auf, brach in Schweiß aus. Ich jedenfalls dachte an ihn, und ich war erwachsen und frei in meinen Entscheidungen, und es ist weder ungewöhnlich noch eigenartig, anstelle von jemand anderem Hand an sich zu legen – du kennst den Betreffenden ein bisschen, aber nicht so, aber auch nicht direkt nicht so – um genau zu sein, kennst du ihn gerade genug, dein Tun zugleich peinlich und herrlich zu machen – wenn du dir vorstellst, dass der andere weiß, was du tun wirst – tun kannst – tun könntest – tun wirst – wieso sich was vormachen: die Pause ist das Vorspiel für ein definitives Ende – du wirst es tun – du wirst dir als Ersatz für den

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