Das blaue Mädchen
Stille.
Um halb zwei hörte sie das Knattern eines Rollers. Sie kannte das Geräusch. Sie kannte auch den Jungen, der den Roller fuhr. Sie hatte ihn schon oft gesehen.
Das Geräusch wurde dünner und verlor sich dann. Mara spürte etwas Nasses, das ihr über die Wangen lief, und leckte es auf. Es schmeckte salzig.
Sie kauerte sich auf dem Bett zusammen. Das Buch auf dem Tisch hatte sie noch immer nicht angerührt.
4
Die Bibliothek war einer der schönsten Räume der Kinder des Mondes. Sie war in einer ehemaligen Scheune untergebracht. Die hohen Wände waren in einem körnigen Weiß verputzt. Wo früher einmal eine Decke gewesen war, lagen jetzt dicke schwarze Holzbalken frei und der Blick ging bis zum Dach.
Für alle Arbeiten gab es Spezialisten unter den Kindern des Mondes. Es gab einen Architekten und eine Architektin, Maurer und Maurerinnen, Tischler und Tischlerinnen. Die Gemeinschaft hatte sich ihr Reich selbst erschaffen, ohne die Hilfe einer einzigen fremden Hand. Männer und Frauen arbeiteten gleichermaßen hart und Seite an Seite.
Die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts gehört einer finsteren Vergangenheit an.
La Lune hatte diesem Thema in ihrem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Frauen genossen in der Gemeinschaft hohes Ansehen. Aufgaben, die als heilig galten, waren ihnen allein vorbehalten. Und so gab es im engen Umfeld von La Lune nur Dienerinnen, im Strafhaus nur Gesetzesfrauen und im Kinderhaus nur Kinderfrauen. In den übrigen Bereichen wurde jeder an den Platz gestellt, für den er besonders geeignet war.
Für die Bibliothek war Gertrud verantwortlich, eine Büchernärrin mit Leib und Seele. Jana mochte sie sehr. Sie war froh, wenn sie Bibliotheksdienst hatte und den ganzen Nachmittag lang mit ihr zusammen sein durfte.
Gertrud schien die meisten der Bücher selbst gelesen zu haben. Sie hatte ein phänomenales Gedächtnis und hütete einen wahren Zitatenschatz. Wann immer Jana mit einer Frage kam, fand sie bei ihr eine Antwort. Sie fand noch mehr bei Gertrud. Wärme. Verständnis. Eine Art von Mütterlichkeit.
Heute war keine Ausleihe. Heute war Aufräumtag. Sie überprüften die Ordnung der Bücher in den Regalen. Jana hatte die Buchstaben von A bis J übernommen, Gertrud den Rest, weil sie einen geübten Blick hatte und schneller war.
»Als wären die Kinder des Mondes eine Ansammlung von Legasthenikern«, stieß Gertrud ungeduldig hervor. »Oder ein Haufen Chaoten. Ist es denn so schwer, ein Buch wieder dahin zurückzustellen, wo man es herausgenommen hat?«
Jana nieste. Manchmal saugten sie den Staub von den Büchern ab, aber es blieb immer noch viel zu viel hängen.
»Wie kann man erwarten, dass sie miteinander liebevoll umgehen, wenn sie Bücher schlecht behandeln? Bücher sind wie Kinder. Sie brauchen Aufmerksamkeit und zärtliche Hände.« Gertrud spähte durch eine Lücke im Regal. »Du fasst sie richtig an. Bestimmt kommst du auch nicht auf die Idee, eine Ecke zu knicken, statt ein Lesezeichen zu benutzen.« Die Brille saß ihr vorn auf der Nase. Über ihren Rand hinweg schaute sie Jana an. »Auf meinem Schreibtisch steht ein Korb voller Lesezeichen. Kannst du mir mal verraten, warum sie die ignorieren?«
Eine Zeit lang arbeiteten sie schweigend weiter. Man hörte nur die Geräusche, die entstanden, wenn ein Buch herausgezogen und am richtigen Platz wieder eingeschoben wurde. Jana war froh über diese mechanische Tätigkeit. Dabei konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen, gleichzeitig war ihre Aufmerksamkeit so beansprucht, dass sie keinen Gedanken zu Ende denken musste. Es war, als leerte sich ihr Kopf und würde wieder frei. Sie nahm sich vor, keine Pause zu machen, bis sie bei E angelangt wäre.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie von der anderen Seite des Regals keinen Laut mehr hörte. Ohne hinzugucken wusste sie, dass Gertrud ein Buch aufgeschlagen und sich festgelesen hatte. Sie lächelte in sich hinein. Gleich würde Gertrud wieder ein schlechtes Gewissen haben.
Die Kinder des Mondes sollten ihre Aufgaben konzentriert und diszipliniert erledigen. Mit der Disziplin hatte Gertrud so ihre Probleme. Es konnte passieren, dass sie nicht zum Gebet kam, eine Mahlzeit oder eine Versammlung verpasste, weil sie über dem Lesen die Zeit vergessen hatte. Beinah jede Woche musste sie Zusatzarbeiten übernehmen.
Um sich zu bessern
, wie La Lune es ausdrückte. Dabei gab es kaum einen besseren Menschen als Gertrud.
Jana war bis zu dem Buchstaben D vorgedrungen,
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