Das blaue Mädchen
Himmelreich. Die ewige Glückseligkeit. Das Einssein mit der Mondheit.
Mara hatte niemals den Wunsch gehabt, eins zu sein mit der Mondheit. Die Statuen der Mondheit hatten ihr immer schreckliche Angst eingejagt. Zwei Gesichter. Jedes sah in eine andere Richtung. Unerbittlich.
Wohin man auch ging, die Mondheit sah alles. Es war, als würde der Blick ihrer starren Augen einem überallhin folgen.
Die Menschen draußen hatten auch einen Gott. Aber der verfolgte sie nicht auf Schritt und Tritt. Er war selbst verfolgt worden und hing jetzt an einem Kreuz.
Mara hatte ihn auf Bildern in Büchern gesehen.
Und dann, später, in der kleinen Dorfkirche.
Die hatte ihr schon immer gefallen, weil sie so alt war und so verwundet aussah mit ihrem bröckelnden Putz und den ausgeblichenen Farben. Und weil sie so schöne bunte Fenster hatte. Über einem der Fenster hatte Mara eines Tages ein Schwalbennest entdeckt und da hatte sie sich endlich getraut, vorsichtig die schwere Türklinke herunterzudrücken.
Sie war heimlich in die Kirche geschlüpft, zwischen den dunklen Bänken hindurchgegangen und vor dem Altar stehen geblieben.
Und da war das Kreuz gewesen. Über dem Altar.
Ein Gott, den man gekreuzigt hatte!
Das war kein mächtiger Gott. Es war ein Gott, mit dem Mara Mitleid empfunden hatte. Ein Gott, den sie hätte beschützen mögen, wenn sie nur älter gewesen wäre und die Möglichkeit dazu gehabt hätte.
Rechts und links vom Altar standen Figuren aus Stein in Mauernischen. Die eine kannte Mara nicht. Die andere war eine Frau. Aus den Gesprächen mit Gertrud wusste Mara, dass diese Frau die Mutter des Gottes war. Sie hieß Maria.
Maria. Mara.
Nicht nur ihre Namen waren einander ähnlich. Maria trug, genau wie Mara an den Mondtagen, ein blaues Gewand. Im Schein der vielen Kerzen, die vor ihr auf einem kleinen Tisch brannten, wirkte das Gewand fast unversehrt. Aus der Nähe jedoch konnte man erkennen, dass es an vielen Stellen beschädigt war. Wie ihr Gesicht. Von der Nase war ein winziges Stück abgebrochen.
Mara hatte die Kerzen betrachtet, von denen einige schon halb heruntergebrannt waren. Wenn man eine Mark in das Körbchen mit dem Geld legte, durfte man eine der frischen Kerzen nehmen, sie in einen der Halter stecken und anzünden.
Mara hatte kein Geld. Aber sie hatte Lust, eine Kerze anzuzünden. Sie nahm sich vor, bald wiederzukommen.
Damit hatte es angefangen. Sooft es ihr möglich war, hatte Mara sich davongeschlichen, um heimlich die kleine Kirche aufzusuchen. Es war gefährlich, aber sie hatte schon häufig gefährliche Dinge getan. Sie hielt sich im Schatten der Bäume, duckte sich hinter Sträucher und Mülltonnen.
In der Kirche war niemals jemand außer ihr. Mara mochte die Stille. Das Licht, das durch die bunten Glasfenster fiel. Den eigenartigen Geruch nach Kühle, altem Holz und den Blumen, die den Altar schmückten.
Jedes Mal zündete sie eine Kerze an. Statt einer Mark legte sie Geschenke neben das Geldkörbchen. Mal einen schönen Stein, mal eine Blume, mal einen Apfel, den sie vom Essen aufbewahrt hatte. Sie wollte die Kerzen ja nicht stehlen, sie bezahlte auf ihre Weise.
Und dann, eines Tages, hatte der Pfarrer sie überrascht.
Mara wollte weglaufen, fühlte sich, als wäre sie ihm in die Falle gegangen. Aber er schrie sie nicht an, schüttelte sie nicht, drohte nicht mit einer Strafe. Er sagte und tat gar nichts. Lächelte nur.
Da blieb sie stehen, zögernd, immer noch auf dem Sprung.
»Du darfst herkommen, sooft du willst«, sagte er.
Und sie kam wieder.
Brachte ein Bild mit, das sie gemalt hatte, eine funkelnde Glasscherbe, eine Taubenfeder.
Um jedes Mal eine Kerze anzünden zu dürfen. Eine Kerze, die sie immer genau in die Mitte des kleinen Tisches stellte.
Ab und zu begegnete sie dem Pfarrer. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
»Ich habe kein Geld«, verriet sie ihm einmal.
»Aber ich sehe, dass du immer ein Geschenk mitbringst.«
Sie nickte.
»Das ist viel mehr wert als Geld«, sagte der Pfarrer.
Wie alt war sie damals gewesen? Acht oder neun Jahre vielleicht. Sie hatte niemals zuvor mit einem der Leute von draußen gesprochen. Ganz allmählich gewöhnte sie sich daran.
»Wir haben alle kein Geld«, hatte sie dem Pfarrer ein andermal erklärt.
»Ich weiß«, hatte er erwidert.
»Weißt du alles?« Mara hatte ihn erstaunt angesehen. »So wie La Lune?«
»Niemand weiß alles«, hatte der Pfarrer geantwortet. »Nur Gott.«
»Aber der ist doch tot.« Mara hatte sich nach
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