Das blaue Mädchen
als sie ein Rascheln hörte. Dann tauchte Gertruds Kopf neben dem Regal auf.
»Es ist mir schon wieder passiert«, sagte Gertrud mit einem schiefen Lächeln.
Fräulein Smillas Gespür für Schnee
. Sie hielt das Buch hoch, als wäre es an sich eine ausreichende Entschuldigung. »Die Geschichte hat mich nicht sonderlich gefangen. Aber die Sprache! Hast du es mal gelesen?«
Jana schüttelte den Kopf. Sie betrachtete Gertrud, wie sie in dem Buch blätterte, das Haar zerzaust, die Wangen gerötet. Sie tauchte immer wie von einem Sturm geschüttelt aus den Büchern auf und ihre Augen blitzten.
»Hör zu:
Draußen, über dem Hafen, kommt das Licht, als hätte es in den Kanälen unter den Brücken geschlafen und steige jetzt von dort her zögernd auf das Eis, das sich ans Leuchten macht.
« Gertrud strahlte Jana an. Sie schlug ein paar Seiten um. »Oder hier:
Er hat ein Gesicht, auf das sich im Laufe der Zeit so viel herabgesenkt hat, dass nichts mehr es richtig beeindruckt
.«
Sie klappte das Buch zu und strich über den Einband. Ihre Hände waren kräftig und an Arbeit gewöhnt. Nicht nur an die Arbeit mit Büchern. Gertrud war sich auch sonst für nichts zu schade. Sie konnte mit derselben Hingabe Erde umgraben, Brennholz stapeln, Wände streichen.
»Sag selbst – muss man den Autor für solche Sätze nicht lieben?«
Jana nickte. Und sie dachte, dass Gertruds Gesicht ganz anders war als das Gesicht, das der Autor da beschrieben hatte. Auf den ersten Blick sah es durchschnittlich aus. Manche hätten es vielleicht sogar hässlich genannt. Fleischige Wangen, großer Mund, schiefe Nase, ein Netz geplatzter Äderchen unter der Haut, Doppelkinn.
Aber sobald Gertrud redete, sobald ihre Worte Funken sprühten, kam die Verwandlung. Dann wirkte ihr Gesicht nicht mehr schwerfällig, sondern lebendig und wach. Es war wie beim Tanz einer dicken Frau, wenn die Geschmeidigkeit der Bewegungen das Ungelenke des Körpers vergessen lässt.
Gertrud stellte das Buch zurück und nahm Jana am Arm. »Komm, wir trinken einen Tee und ruhen uns ein wenig aus.«
Flink ging sie in der kleinen Küche hin und her. Jana hatte keine Ahnung, wie Gertrud diese Küche durchgesetzt hatte. Sie wusste auch nicht, wie es ihr immer wieder gelang, Kekse und andere Leckereien in den Schränken zu horten. Sie fragte nicht danach. Sie wollte Gertrud nicht in Verlegenheit bringen.
Diesmal stellte sie eine Schale mit italienischem Mandelbrot auf den Tisch, kleine, harte Schnitten, die sie in den heißen Tee tunkten. Die wunderbare Süße von Honig breitete sich in Janas Mund aus.
Einen ungebetenen Besucher brauchten sie nicht zu fürchten. Sie wurden an den ausleihfreien Tagen so gut wie nie gestört. Es war, seit Jana für die Arbeit in der Bibliothek eingeteilt worden war, erst zwei- oder dreimal passiert.
»Was ist los, Mädchen?«, fragte Gertrud nach einer Weile.
Man konnte nichts vor ihr verbergen. Sie hatte einen scharfen Blick. Jana stiegen die Tränen in die Augen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten.
»Es ist wegen Mara, nicht?«
Jana nickte. Die Tränen rollten ihr übers Gesicht.
Gertrud reichte ihr eine Serviette. Jana wischte sich die Augen und putzte sich die Nase. Sie musste aufhören zu weinen. Ihre Augen wurden rot davon, ihr Gesicht verschwollen und fleckig. Beim Abendessen würden es alle sehen. Es würde Fragen geben. Janas Gefühle würden unters Mikroskop gelegt und analysiert werden. Und dann, wenn eine Diagnose getroffen war, würde man La Lune informieren.
Keine Tränen. Bloß keine Tränen!
»Wein dich aus«, sagte Gertrud ruhig. »Hier bei mir musst du nicht stark sein.«
Und sie ließ Jana weinen, ohne sie mit Worten zu stören, ohne eine einzige Frage zu stellen.
Mara saß zusammengekrümmt auf dem Bett. Sie musste vor allem diesen ersten Tag überstehen, dann würde es leichter werden, ganz bestimmt. Konnte man sich nicht auch an die Einsamkeit gewöhnen?
Sie hatte sich an alles gewöhnt. Sogar daran, ihre Gefühle zu verbergen. Wenn sie wollte, konnte sie selbst beim eisigsten Schrecken unbeteiligt wirken. Sie hatte es gelernt. Es war ihre Art von Überlebenstraining gewesen.
Schon als Kind hatte sie gespürt, dass sie nicht zu den Kindern des Mondes passte. Obwohl sie in die Gemeinschaft hineingeboren war und nie etwas anderes kennen gelernt hatte. Etwas tief in ihr wusste, dass sie zu den Menschen in der Welt draußen gehörte.
Nur die Kinder des Mondes gelangen in das ewige Himmelreich.
Das ewige
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