Das blaue Mädchen
dem Kreuz umgesehen. »Wie kann er da noch etwas wissen?«
Danach hatte es viele Gespräche mit dem Pfarrer gegeben. Er hatte Mara von Gottvater, Jesus und dem heiligen Geist erzählt.
»Dann habt ihr drei Götter?«, hatte Mara gefragt.
»Nein.« Der Pfarrer hatte gelächelt. »Er ist ein einziger Gott.«
Mara hatte das nicht verstanden. Sie begriff es noch immer nicht. Aber sie hatte keine Angst vor diesem fremden Gott am Kreuz.
Ich würde jetzt gern eine Kerze anzünden, dachte sie und sah zu dem kleinen vergitterten Fenster hoch, zusammen mit Timon.
Sie hatte ihm noch nicht von der Kirche und ihren Besuchen dort erzählt. Sie hatte vorgehabt, das bald zu tun. Ihn zu fragen, ob er nicht Lust hätte, einmal mitzukommen.
Man hatte sie entdeckt, bevor sie eine Gelegenheit dazu fand.
Endlich konnte Jana sprechen.
»Die Strafe ist so hart«, sagte sie und die Tränen waren noch in ihrer Stimme. »Mara ist doch keine Verbrecherin.«
»Sie hat sich von den Gesetzen entfernt«, sagte Gertrud. Es klang nicht vorwurfsvoll. Es war eine schlichte Feststellung.
Jana hatte sich bisher wenig Gedanken über die Gesetze gemacht. Sie hatte sie einfach hingenommen wie alles andere auch. Einige hatte sie selbst schon übertreten. Schrieb sie nicht heimlich Tagebuch? Trank sie nicht außerhalb der Mahlzeiten Tee mit Gertrud und aß von den unerlaubt abgezweigten Süßigkeiten wie gerade jetzt das Mandelbrot? Mochte sie nicht bestimmte Personen lieber als andere? Miri zum Beispiel. Gertrud. Und Mara.
All das war nach den Vorschriften der Kinder des Mondes nicht gestattet. Über all das hatte sie sich hinweggesetzt.
»Mara ist achtzehn«, sagte Gertrud, »nicht zwanzig.«
Mit achtzehn wurde den Mädchen von La Lune ein Partner bestimmt. Erst mit zwanzig wurde die Vermählung vollzogen. Zwei Jahre lang bereitete das Paar sich auf diese Verbindung vor. Spirituell, wie La Lune es verlangte.
Für Mara war Timon ausgewählt worden.
Timon arbeitete hauptsächlich in der Tischlerei. Er war so alt wie Mara. Ein zurückhaltender Junge, der sich selten äußerte, groß und schlank, die Haare hell und stoppelig wie ein abgemähtes Weizenfeld.
Zuerst hatte Mara sich gesträubt. »Wenn ich einen Partner will, dann suche ich mir den selber aus«, hatte sie zu Jana gesagt.
Jana war erschrocken. »Wir dürfen nicht wollen«, hatte sie geantwortet, leise, damit niemand es hörte. Sie hatten Küchendienst gehabt und waren damit beschäftigt gewesen, Salat zu putzen.
Mara hatte gelacht. »Und du glaubst, das funktioniert?«
Verständnislos hatte Jana sie angesehen.
Mara fuchtelte mit dem Schälmesser in der Luft herum. »Du glaubst, es funktioniert, dass du dir einschärfst, du darfst nicht wollen und dann willst du wirklich nicht?«
Jana nickte. »Wenn man sich bemüht.«
»Kindskopf«, sagte Mara.
»Wenn du es wirklich willst, dann schaffst du es auch.«
»Ich denke, ich darf nicht wollen.« Mara zupfte seelenruhig Salatblätter auseinander.
Jana starrte sie an.
»Verstehst du jetzt?« Mara spießte einen Salatkopf auf und betrachtete ihn grimmig. »So einfach, wie La Lune es sich vorstellt, ist es nicht. Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Es gibt verdammt viele Töne dazwischen.«
»Du bist eine Revolutionärin«, sagte Jana.
»Da hast du verflucht Recht!«
»Du sollst nicht...«
»Ich liebe es zu fluchen«, sagte Mara.
Und dann hatte sie sich in Timon verliebt. Und Timon hatte sich in sie verliebt. Und sie warteten die zwei Jahre nicht ab. Bereiteten sich nicht aufeinander vor. Stürzten sich einfach in die Arme.
»Sie lieben sich«, sagte Jana, als sie sich wieder daran erinnerte, dass Gertrud vor ihr am Tisch saß.
»Du musst zwischen Liebe und Lust unterscheiden«, sagte Gertrud ruhig.
»Kann man das?«
Gertrud sah sie lange an. »Jana«, sagte sie. »Sei vorsichtig.«
Sie waren so vorsichtig gewesen. Hatten sich in aller Heimlichkeit getroffen, immer wieder an anderen Orten, damit ihnen niemand auf die Spur käme. Nicht einmal Dorfbewohner hatten sie zusammen gesehen. Nur der Junge mit dem Roller einmal, als sie sich gerade wieder trennen wollten, um zurückzugehen. Er hatte ihnen zugenickt und gelächelt. Und sich vielleicht über ihre Verlegenheit gewundert.
Ein einziger Mensch hatte von den Treffen gewusst, außer Jana. Sie war für Mara wie eine Schwester. Neben Timon der allerwichtigste Mensch. Mara hätte ihr niemals etwas verheimlicht.
Jana hatte noch mehr Angst davor gehabt, dass Mara und Timon
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