Das blaue Mädchen
es also nicht.
Sein Blick begegnete dem der Mutter. Forschend sah sie ihn an.
Marlon nahm seine Tasse, trank und verbrühte sich die Lippen.
5
»Jana, kommst du bitte zu mir?« Reesa hatte ihre Aufforderung in eine höfliche Frage gekleidet, aber natürlich war es keine Frage, sondern ein unverkennbarer Befehl.
Jana ließ ihre Büchertasche auf dem Tisch liegen, sah den anderen nach, die schwatzend die Klasse verließen, und ging widerstrebend nach vorn.
Reesa schob ihr das Deutschheft hin.
»Schlag es auf!«
Gehorsam schlug Jana es auf.
»Kannst du mir das erklären?«
Striche, Punkte, Kreise, Dreiecke, manchmal miteinander verbunden, manchmal nicht. Wie sollte Jana das erklären?
»Ist das alles, was dir zum Thema
Freiheit
einfällt? Ein paar armselige Sätze und dieses Gekritzel?«
Wenn Jana jetzt das Richtige sagte, konnte sie vielleicht alles wieder in Ordnung bringen. Vielleicht. Aber was war das Richtige?
»Du bist doch eine gute Schülerin. Warum enttäuschst du mich so?«
»Es tut mir Leid.« Jana wollte niemanden enttäuschen, auch Reesa nicht. Kreatives Schreiben war nicht nur ihr Lieblingsfach, es war ihre einzige große Stärke. Sie hatte der Sprache immer vertraut, die Kraft der Worte bewundert.
Während sie das dachte, stolperte sie über Reesas letzten Satz.
Warum enttäuschst du mich so?
Enttäuschen. Das bedeutete doch eigentlich, dass man eine Täuschung aufhob. Dass man den Schleier wegzog und die Wirklichkeit sichtbar machte. Wieso wurde das Wort nur negativ benutzt?
Jana sah, wie Reesas Lippen sich bewegten, sie hörte auch ihre Stimme, weit weg.
Konzentriere dich, dachte sie.
»...und glaube, dass du ein Problem hast. Willst du mit mir darüber reden?«
Jana schüttelte den Kopf. Wenn sie jetzt nicht den Mund aufmachte, wurde ihre Lage kompliziert.
Kinder des Mondes streben nach Klarheit. Ihr Weg wird bestimmt durch die Klarheit des Geistes.
»Das Thema war zu...groß, um es so kurz abhandeln zu können«, sagte sie. »Die Zeichen habe ich wohl beim Nachdenken gemalt. Ich habe es nicht mal bemerkt.«
Abwartend sah sie Reesa an. Die überlegte und nickte dann. Aber ein Rest von Argwohn war noch in ihren Augen.
»Deine Antwort befriedigt mich nicht«, sagte sie. »Nun gut, belassen wir es dabei. Allerdings werde ich deine nächste Arbeit gründlich unter die Lupe nehmen.«
Unter die Lupe nehmen. Jana nickte. Sie würde sich vorsehen müssen.
Marlon hatte die Hälfte seines freien Nachmittags damit verbracht, an einem Referat für Sozialwissenschaften zu arbeiten. Normalerweise liebte er es, Zeit für seine Bücher zu haben, sie aufgeschlagen auf dem Schreibtisch zu verteilen, um jederzeit schnell etwas nachblättern zu können.
Bücher hatten einen guten, sauberen Geruch. Sie hatten eine klare, einfache Form. Sie waren perfekt. Ganz anders als alles in diesem Haus. Vielleicht liebte Marlon Bücher vor allem deshalb. Wegen ihrer Vollkommenheit. Auch wenn er mit dem Inhalt keinesfalls immer einverstanden war. Aber das war ja gerade das Faszinierende an der Arbeit mit Büchern, dass er lesen, vergleichen und dann einen eigenen Standpunkt entwickeln konnte.
Heute lief es nicht so recht. Marlons Gedanken schweiften immer wieder ab. Was, wenn Greta sich geirrt hatte? Wenn es doch
das
Mädchen war, das sie im Strafhaus eingesperrt hatten?
Greta hörte ja nie genau hin, ebenso wenig wie Marlene, und vielleicht war das Haar des Mädchens gar nicht dunkel gewesen. Hörensagen war immer ungenau. Jemand hatte es ihnen erzählt. Jemand hatte das Mädchen gesehen. Jemand hatte gesagt, es sei ein Mädchen mit dunklem Haar gewesen. Aber es konnte auch ganz anders sein.
Er musste sich vergewissern.
Doch dazu musste er so nah wie möglich an die Gebäude der Kinder des Mondes herankommen und in diesem Dorf hatten sogar die Wände Augen. Es gab eine unsichtbare Grenze. Auf der einen Seite lebten die Dorfbewohner, auf der anderen die Kinder des Mondes.
Mit dem Roller?
Zu laut. Zu auffällig.
Besser zu Fuß.
Aber dazu brauchte Marlon einen Grund. Für ihn gab es keinen Anlass, an den Gebäuden der Sekte vorbeizuspazieren. Er hätte den Traktor nehmen und so tun können, als sei er auf dem Weg zu einer Weide, doch mit dem war sein Vater losgefahren, um an dem Zaun zu arbeiten.
Die Kamera!
Marlon war oft mit ihr unterwegs. Das wäre jedem Neugierigen gegenüber leicht zu erklären.
Bei seiner Mutter, die im Garten Unkraut jätete, fing er damit an. »Ich bin mal eine Weile weg,
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