Das blaue Mädchen
Mutter, dachte sie, hilflos und wütend zugleich.
»Arbeitest du heute wieder in der Bibliothek?«, fragte Anna.
Jana nickte.
Anna gehörte zu den Frauen, die immer nur für eine einzige Arbeit eingeteilt wurden. Die Backstube war ihr Zuhause. Eine gute Wahl, denn das Brot, die Brötchen, die Torten und Kuchen, die sie und die anderen Frauen backten, waren unvergleichlich.
Sie lächelten einander zu, Jana ging weiter und Anna kehrte in die Backstube zurück.
Es war ein schöner, heißer Tag. Ein strahlend blauer Himmel spannte sich über den Feldern. Zwischen den Bäumen auf dem Hügel leuchtete das Strafhaus wie ein Kreidefels aus einer anderen Welt.
Jana war gerade vor der Bibliothek angekommen, da hörte sie den Roller.
Der Junge verlangsamte seine Fahrt, ihre Blicke begegneten sich, dann gab er Gas und raste davon. Seine Haare flatterten im Wind. Der Helm schaukelte am Lenker.
Setz ihn auf, dachte Jana. Das ist doch viel zu gefährlich! Aber sie wusste, dass sie, säße sie jetzt hinter ihm, auch gern den Wind im Haar gespürt hätte.
Sie seufzte und schob die Tür auf.
Sie saß nicht in diesem Strafhaus. War frei.
Wie sie ihn angesehen hatte!
Marlon fuhr im Zickzack über die Straße. Er hatte Lust zu singen.
Warum eigentlich nicht?
»Die Gedanken sihind frei, wer kann sie erraten?« Die Worte flossen hinter ihm davon wie Blätter, die man in einen Fluss wirft. »Sie fliegen vohorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dahabei – die Gedahanken sind frei!«
Er fuhr an den Straßenrand, stellte den Roller ab, lief ein Stück in den Wald und warf sich auf die Erde. Sie war weich, eine duftende Decke aus Tannennadeln und Laub. Er wälzte sich lachend und blieb dann atemlos liegen und starrte in das Baumdach über ihm, durch das blaue Flecke schimmerten.
Dann hielt er den Atem an. Verdammt! Er hatte sich verliebt. In ein Mädchen aus der Sekte. Das falsche Mädchen. Die falsche Liebe. Das alles hatte keinen Sinn. Keine Zukunft. Ebenso gut hätte er sich in eine Nonne verlieben können. Oder in eine zwanzig Jahre ältere Frau. Dieses Mädchen war unerreichbar für ihn.
»Du Idiot«, sagte er laut. »Seit wann gibst du auf, noch bevor du angefangen hast zu kämpfen?«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, ein blödsinniges, wehrloses, zärtliches Lächeln.
Er hatte sich verliebt. Verliebtverliebtverliebt.
Lange blieb er so liegen. Lange betrachtete er das Blaugrünblau über sich. So schöne Farben hatte er noch nie gesehen. Und ausgerechnet jetzt hatte er die Kamera nicht dabei.
Der Stauffer hätte Augen gemacht. So ein Grün! So ein Blau!
Mit beiden Händen griff er in die Tannennadeln. Er ließ sie sich über den Kopf rieseln und übers Gesicht.
Dann sprang er auf. Wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät kommen. Sie hatten Sport und den hatte er schon zu oft geschwänzt.
Er raste, er schwebte, er flog.
Stellte sich ihre Stimme vor. Und wie sich ihre Haut anfühlte. Fasste in Gedanken in ihr Haar und ließ es durch die Finger gleiten. Er fühlte ihre Lippen auf seinen. Hörte sie leise atmen, ganz nah an seinem Ohr.
Ab heute war alles möglich.
Er hat mich angesehen. Ist ganz langsam gefahren. Und dann gerast. Ohne Helm. Wahnwitzig.
»Was ist mit dir los, Jana?«, hat Gertrud mich gefragt. »Bist du gerannt?«
Nein. Aber ich wäre gern gerannt. Hinter seinem Roller her.
Alle waren schon versammelt. Der Raum, in dem die abendlichen Gespräche der Mädchen stattfanden, war groß und schön. Es gab kein Möbelstück, das die Gedanken ablenken konnte, nur Sitzkissen. Sie hatten die Farbe eines Morgenhimmels im Juni und passten gut zu dem tiefen Blau der Mädchenkleidung. Die Wände waren hoch und weiß.
Jedes Mal, wenn Jana diesen Raum betrat, spürte sie seine wohltuende Ruhe. Doch diese Ruhe war trügerisch. Sie konnte einen unmerklich einlullen und unvorsichtig machen.
Ich bin nicht zu spät, dachte Jana, als sie sich auf dem Sitzkissen niederließ, diesmal nicht. Die anderen sind zu früh. Sie war nicht entspannt, wie sie es sein sollte. Da war immer noch die Wut auf Timon. Und das Erschrecken über die Gefühle, die der Anblick des Jungen auf dem Roller in ihr ausgelöst hatte.
Es gibt nur die eigentliche Welt, die Welt der Kinder des Mondes.
Und was war die Welt da draußen? Die Welt, zu der dieser Junge gehörte? Eine Fata Morgana?
Die Kinder des Mondes werden sich draußen ausbreiten wie der flauschige
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