Das blaue Mädchen
wäre ein schöner Titel für ein Gedicht, ein Lied oder ein Bild.
Chagall hätte sie kennen sollen, dachte er. In seinen Bildern hätte sie fliegen können. Über alle Grenzen hinweg. Und Marlon neben ihr, beide Arme um sie gelegt.
Ich möchte sie spüren, dachte er. Der Gedanke erregte ihn.
Greta und Marlene waren damit beschäftigt, die Karnickelställe auszumisten, eine Arbeit, vor der sie sich gern drückten, aber die Mutter ließ nicht mit sich handeln – einen Teil der täglichen Aufgaben mussten sie übernehmen und dazu gehörten auch Arbeiten, die stanken und schmutzig machten.
Marlon konnte seine Schwestern nicht sehen, aber er hörte sie lachen. Sie waren richtige Kichererbsen, gerieten über alles und jedes außer sich. Marlon mochte ihre Fröhlichkeit, er fühlte sich nur oft von ihr ausgeschlossen.
Von weitem hörte er einen Traktor. Das musste der Vater sein. Die Nordweide war abgegrast und die Kühe mussten auf eine andere gebracht werden, die mit dem neuen Zaun, die den Gebäuden der Kinder des Mondes am nächsten lag. Am Abend, wenn Marlon zum Melken fuhr, würde er vielleicht endlich das blaue Mädchen wieder sehen. Seit dem letzten Mal war so viel Zeit vergangen. Die Stunden bis dahin würde er, sobald er mit dem Dach fertig wäre, über seinen Büchern verbringen.
Es war Samstag. Am Abend war er mit Marsilio und Tim in der Disko des Nachbarorts verabredet. Zum ersten Mal hatte er nicht die geringste Lust dazu.
Sie haben mich nach meinen Träumen gefragt. Es ist ihnen aufgefallen, dass ich schon lange von keinem mehr berichtet habe. Natürlich hatte ich welche, mehr als genug, aber ich habe einfach behauptet, neuerdings könne ich mich morgens an meine Träume nicht mehr erinnern.
So etwas lassen sie nicht durchgehen.
Sie waren zu dritt und begierig darauf, meinen vergessenen Träumen auf die Spur zu kommen. Sie lächelten.
Später dann, als sie allmählich begriffen, dass sie nichts erfahren würden, ist ihr Lächeln starr geworden. Sie haben die erste Maske fallen lassen und eine zweite kam darunter hervor. Unter der wievielten Maske verbirgt sich ihr Gesicht?
Sie haben gesagt, ich soll mir jeden Abend vor dem Einschlafen vornehmen, die Träume der Nacht nicht zu vergessen. Und jeden Morgen nach dem Aufwachen soll ich in mich hineinhorchen, um mich zu erinnern.
Jeder Traum, von dem sie wissen, öffnet ein Fenster in mein Innerstes. Schon viel zu viele Fenster stehen offen. Dieses eine muss verschlossen bleiben, denn jede Nacht fährt der Junge mit dem Roller durch meine Träume.
Die Tage waren ihr durcheinander geraten. Wie bei einem halb fertigen Puzzle, das man aus Versehen anstößt. Wenn sie wenigstens einen Stift gehabt hätte und ein einziges Blatt Papier, um einen Kalender anzulegen. Oder eine Nagelfeile, um Striche in die Wand zu ritzen. Als ihr eingefallen war, dass sie auch mit dem Daumennagel Einkerbungen in die Wand hätte drücken können, war es schon zu spät gewesen.
Befand sie sich inzwischen drei Wochen im Strafhaus? Länger? Kürzer?
Mara spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie weinte nicht oft, und dass sie neuerdings so nah am Wasser gebaut hatte, machte ihr Angst. Das bedeutete, dass die Härte, zu der sie sich zwang, seit sie eingesperrt war, zu bröckeln begann.
Sie lechzte nach einer menschlichen Stimme. Nach Worten. Berührungen. Oft saß sie auf dem Bett und umschlang sich selbst mit den Armen.
Niemand da. Niemand.
Die wenigen Gewissheiten, die sie hatte, glitten ihr durch die Finger. Was wusste sie denn noch genau? Nicht einmal mehr, wie lange sie schon hier war und wie lange sie noch aushalten musste.
Sie wusste, dass sie Mara hieß. Dass sie achtzehn Jahre alt war. Dass sie zehn Finger und zehn Zehen hatte. Dass Jana an sie dachte. Dass Timon sie liebte.
Das war nicht genug. Es half nicht gegen das dumpfe Gefühl im Kopf. Nicht gegen diese Hölle der Einsamkeit und des Nichtstuns.
Manchmal sang sie. Wie sie es als Kind getan hatte, wenn die Angst zu groß gewesen war. Damals hatte sie sich nur vor der Mondheit und vorm Alleinsein im Dunkeln gefürchtet. Inzwischen hatte sie vor allem Angst.
Die Stunden legten sich ihr schwer auf die Schultern. Sie hasste die Zeit.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu beschäftigen. Überlegte sich wieder und wieder, wer sie wohl verraten hatte. Wer hatte sie mit Timon gesehen?
Der Junge mit dem Roller. Nein. Kein Kind des Mondes würde mit ihm sprechen. Und welchen Grund hätte er gehabt? Er wusste so gut wie
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