Das blaue Mädchen
darum bittet.«
»Ich würd mitkommen.« Sie beugte sich zu ihm vor und begann zu flüstern. »Habt ihr auch Kaninchen?«
In diesem Augenblick tauchte eine der Kinderfrauen hinter ihr auf. Sie grüßte Marlon lächelnd und zog das Mädchen mit sich fort. Miri zappelte und wehrte sich. Ihre Frage war noch nicht beantwortet.
»Ja?«, rief sie über die Schulter. »Habt ihr?«
»Ja!«, rief Marlon und richtete sich wieder auf. Ein seltsames Mädchen. In ihren Augen war ein Ausdruck gewesen, den er nicht deuten konnte. Trotz?
Die Kinderfrau hatte Miri hochgehoben und trug sie ins Haus. Miri weinte nicht. Sie schrie. Wie eine Katze, die angegriffen wird. »Nein!«, schrie sie. Nur dieses eine Wort. »Nein! Nein! Nein!«
Was war so schlimm daran, dass sie ein paar harmlose Worte mit ihm gewechselt hatte?
Er konnte nicht ewig hier stehen bleiben. Nachdenklich ging er weiter. Aus der Tischlerei war das Kreischen einer Kreissäge zu hören. Einige Meter weiter wurde ausgeschachtet. Ein weiteres Haus würde entstehen und den Besitz der Kinder des Mondes vergrößern.
Sie kauften Höfe auf, rissen sie ab und errichteten an ihrer Stelle die leuchtend weißen Gebäude aus Stein und Glas, die so schön waren und so abweisend. Nur wenige Häuser ließen sie stehen und bauten sie um. Nicht die Höfe waren ihnen wichtig, sondern das Land. Von Jahr zu Jahr breiteten sie sich weiter aus.
»Diese La Lune«, hatte Heiner Eschen neulich gesagt und verächtlich ausgespuckt, »ist wie eine Spinne, die alles mit ihren Netzen überzieht. Weiß der Kuckuck, warum sie sich ausgerechnet unser Dorf ausgesucht hat. Jedenfalls wedelt sie mit ihrem dreckigen Geld und kauft uns alle raus, einen hübsch nach dem andern.«
Manche allerdings musste sie nicht rauskaufen, manche waren selbst zu Kindern des Mondes geworden. Der alte Telgner zum Beispiel, der mit seiner ganzen Familie übergelaufen war.
Übergelaufen, dachte Marlon, das klingt, als lebten wir im Krieg.
Die Telgners waren ganz in der Sekte aufgegangen und hatten jede Verbindung zu den Dorfbewohnern abgebrochen.
Der Kontakt, den die Kinder des Mondes zur Außenwelt pflegten, war auf bestimmte Bereiche beschränkt. Einmal im Monat luden sie zu einer Informationsveranstaltung ein. Einige aus dem Dorf waren vor Jahren einmal aus reiner Neugier hingegangen. Es hatte Vorträge gegeben und Gespräche und zwischendurch etwas zu essen. Und dann hatten sie einen Fragebogen ausfüllen sollen, und als sie sich geweigert hatten, waren sie unverzüglich vor die Tür gesetzt worden.
Die Sekte wuchs nicht allein aus sich heraus. Immer wieder kamen welche von außen hinzu.
Inzwischen versuchten die Kinder des Mondes nicht mehr, die Dorfbewohner für ihre Ideen zu gewinnen. Die Fronten hatten sich längst verhärtet. Sie schickten Mitglieder durch die Lande (
Missionare
nannte Marlons Vater sie mit beißendem Spott), um überall zu werben. Der Kontakt zu den Dorfbewohnern beschränkte sich auf die regelmäßigen Vorstöße, ihnen neue Angebote für ihre Höfe zu unterbreiten.
Sie verkauften die Möbel, die sie schreinerten. Verkauften Kleidung, die sie selbst herstellten, und Kräuter, die sie zogen. Und betrieben so viel Landwirtschaft, wie nötig war, um ihre Mitglieder zu versorgen. Davon abgesehen, lebten sie von dem, was die neuen Mitglieder an Vermögen mitbrachten, und von den Spenden, die sie auftrieben.
Seit einiger Zeit streckten sie die Finger auch nach der Politik aus. Sie bekleideten noch nicht die großen Ämter, ein Mitglied der Sekte saß jedoch bereits im Gemeinderat.
»Die bauen ihre Macht systematisch von unten nach oben auf«, sagte Marlons Vater immer wieder, »und bevor man es richtig mitkriegt, haben sie alle wichtigen Positionen unter Kontrolle. Denkt an Hitler. Den hat zuerst auch keiner für voll genommen.«
Allmählich begannen auch die Medien, sich für die Kinder des Mondes zu interessieren. La Lune war schon ein paar Mal im Fernsehen aufgetreten. Lächelnd hatte sie vor den Kameras gestanden und ihre Ziele erläutert. Die hießen, wie sie sagte, nicht Macht und Kontrolle, sondern Frieden, Menschlichkeit und eine große, universelle Liebe.
Von dem, was die Dorfbewohner mehr als alles andere aufbrachte, hatte La Lune jedoch kein Wort verlauten lassen, dass nämlich die Liebe so universell zu sein hatte, dass die Struktur der Familie aufgehoben werden musste.
Bei den Kindern des Mondes gab es keine familiären Bindungen. Die Paare lebten zusammen mit anderen
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