Das blaue Mädchen
Samen des Löwenzahns.
Achtung, dachte Jana, lass deine Gedanken nicht umherflattern. Halte sie beisammen.
Bei den abendlichen Gesprächen erzählte jeder, wie er den Tag verbracht hatte. Und man berichtete von den Träumen der vergangenen Nacht. Die Traumdeuter saßen im Hintergrund und machten sich Notizen. Manchmal mischten sie sich ein und fragten nach Einzelheiten. Manchmal nahmen sie ein Kind des Mondes anschließend mit in einen anderen Raum, um sich ausführlich mit dessen Traum zu beschäftigen. Es war der einzige Raum, dessen Wände dunkel gestrichen waren, moosgrün, fast so, als wäre er selbst Teil eines Traums.
»Jana? Fängst du bitte an?«
Das war La Lune. Sie nahm an den abendlichen Gesprächen teil, sooft sie konnte. Aufmunternd lächelte sie Jana zu.
»Ich habe Gertrud in der Bibliothek geholfen«, sagte Jana.
»Gab es etwas Besonderes?«
»Nein. Es war ein normaler Arbeitstag.«
Das Besondere waren die Kekse gewesen, aber das behielt Jana für sich. Und der Junge auf dem Roller. Von ihm durfte sie erst recht nicht erzählen.
»Gertrud ärgert sich jeden Tag darüber, dass die Lesezeichen zu wenig benutzt werden. Viele knicken die Ecken der Buchseiten und manche Bücher sehen deshalb schon ziemlich mitgenommen aus.«
Lenk sie ab, dachte Jana, und mach ein unbefangenes Gesicht.
La Lune nickte. »Darüber sollten wir beim Frühstück einmal reden, wenn alle anwesend sind.« Sie bedankte sich mit einem Lächeln bei Jana und wandte sich einem anderen Mädchen zu.
Es gab keine Probleme. Jede hatte ihre Arbeit getan, wie es von ihr verlangt wurde. Nur im Kinderhaus hatte es einen unangenehmen Zwischenfall gegeben. Miri war auf Indra losgegangen und hatte sie geschlagen.
»Miri ist manchmal sehr aggressiv«, sagte Carla, die im Kinderhaus Dienst gehabt hatte.
»Sie ist nicht aggressiv.« Jana biss sich auf die Unterlippe. Es war gefährlich, Partei zu ergreifen. La Lune war sehr hellhörig, wenn es um besondere Beziehungen zwischen einzelnen Kindern des Mondes ging.
»Nein?« La Lune sah Jana aufmerksam ins Gesicht.
»Sie ist... anders«, sagte Jana. »Sie braucht ein bisschen Zeit.«
Damit hatte sie Miri keinen Gefallen getan. Die Kinder des Mondes waren die Kinder des Mondes. Nur die anderen waren anders. Wohin gehörte Miri?
Jana sah das offene, kleine Gesicht vor sich. Sie hörte Miris Sätze, die hin und wieder so sonderbar verrutschten. Sie dachte plötzlich, dass Miri mit ihren fünf Jahren sehr tapfer und geradlinig war. Und dass man ihr das austreiben würde. In zehn Jahren säße sie mit all den anderen Mädchen hier in diesem Raum – wäre sie eine von ihnen oder würde sie sich immer noch auflehnen?
»Indras Nase hat geblutet.« Carla erwähnte es ohne anklagenden Unterton. »Wir konnten sie aber nicht richtig trösten, weil wir uns um Miri kümmern mussten, die immer weiter getobt hat.«
»Um was ging es bei diesem Streit?«, fragte La Lune.
Carla überlegte. Wie wir uns alle immer bemühen, die richtigen Worte zu finden, dachte Jana.
»Miri hat neulich mit einem Jungen aus dem Dorf gesprochen«, sagte Carla. »Indra hat ihr vorgeworfen, das sei nicht richtig gewesen. Miri hat sie daraufhin beschimpft. Und dann hat Indra gesagt, Kinder des Mondes, die verbotene Dinge täten, gehörten ins Strafhaus.«
»Und dann hat Miri zugeschlagen?«
Carla nickte.
»Ich kümmere mich darum«, sagte La Lune.
»Es sind doch Kinder«, sagte Jana. »Sie müssen erst lernen, was richtig ist und was falsch.«
La Lune wechselte das Thema. Es war Zeit, über die Träume zu sprechen.
7
Das Dach hatte mehr undichte Stellen, als Marlon vermutet hatte. Sie zu reparieren, würde ihnen ein wenig Aufschub verschaffen, aber bald musste es vollständig neu gedeckt werden, daran führte kein Weg vorbei. Die Ziegel waren bemoost und von grau-grünen Flechten überzogen. Ihre ursprünglich rote Farbe war kaum noch zu erkennen.
Marlon war schwindelfrei und doch fiel es ihm schwer, sich auf dem steilen Untergrund zu bewegen. Er spürte gern festen Boden unter den Füßen. Aus diesem Grund empfand er auch beim Schwimmen immer ein leises Unbehagen. Luft und Wasser waren nicht seine Elemente.
Er suchte nach den schadhaften Ziegeln und tauschte sie aus. Seine Finger verrichteten ihre Arbeit ruhig und sicher, aber seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Er dachte an das Mädchen, das er im Stillen
das blaue Mädchen
nannte, obwohl alle Mädchen der Sekte blaue Kleider trugen.
Das blaue Mädchen
. Es
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