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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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nichts über ihre Art zu leben. Bestimmt wusste er auch nicht, dass Timon und Mara gar nicht zusammen sein durften.
    Sie waren so vorsichtig gewesen. So vorsichtig!
    Mara stand auf und ging zum Tisch. Sie berührte die Bibel mit den Fingerspitzen. Ein paar Worte nur und die Einsamkeit wäre leichter zu ertragen. Sie nahm das Buch in die Hand. Fast hatte sie es schon aufgeschlagen, da legte sie es wieder hin.
    »Geh zum Teufel, La Lune!«, flüsterte sie.

    An diesem Samstag hatte Jana Dienst in der Tischlerei. Das kam selten vor und sie hätte sich sehr darüber gefreut – wenn Timon nicht gewesen wäre.
    Jana liebte den Duft des Holzes. Sie genoss es, über den Teppich aus Sägespänen zu laufen, der sich unter den Füßen so weich anfühlte, und sie fasste gern die fertigen, glatten Möbelstücke an.
    Timon hatte ihr eine Flasche mit Öl gegeben und ihr Stühle hingestellt, die sie damit behandeln sollte. Mit spitzen Fingern hatte sie ihm die Flasche abgenommen, sehr darauf bedacht, seine Hand nicht zu berühren. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie hier in der Tischlerei mit ihm sprechen musste, aber sie würde es auf das Nötigste beschränken. Vor allem würde sie ihm freiwillig nicht zu nahe kommen.
    Das Holz war durstig. Gierig sog es das Öl auf und nahm einen warmen Bronzeton an. Jana benutzte kein Tuch, um das Öl aufzutragen, sie nahm lieber einen Pinsel. Vielleicht weil es sie an eine der schönen Seiten ihrer Kindheit erinnerte. Sie hatte immer gern gemalt. Ungehemmt in Farben geschwelgt. Damals hatte sie das Wort
ich
gelernt. Aber nur, um es schnell durch das
Wir
der Kinder des Mondes zu ersetzen.
    Durch die offen stehende Tür konnte sie Timon sehen, der damit beschäftigt war, ein langes, dickes Holzstück zu hobeln, ein Tischbein vielleicht. Die Späne fielen zu Boden wie Schnee. Jana hatte immer verstanden, dass Mara sich in Timon verliebt hatte. Er war so ruhig und gelassen, so zuverlässig, freundlich und sanft. Nur manchmal verrieten seine Augen, dass unter dieser Oberfläche etwas brodelte, dass er zu einer Leidenschaft fähig war, die ihm all die Jahre strenger Erziehung nicht hatten austreiben können.
    Er arbeitete im Unterhemd. Die Muskeln an seinen Armen und zwischen den Schulterblättern spannten und entspannten sich im Rhythmus seiner schnellen, gleichmäßigen Bewegungen. Seine braune Hose war von Holzspänen bedeckt.
    Seine braune Hose. Jana stutzte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass die Farbe der Kleidung auf den ersten Blick Geschlecht und ungefähres Alter der Kinder des Mondes erkennen ließ. Obwohl ihr die Kleiderordnung von Kindesbeinen an vertraut war, versetzte ihr die Erkenntnis einen Schock. Es konnte dafür nur einen Grund geben: Kontrolle.
    Waren Mara und Timon so aufgefallen?
    Erst nach ihrer Vermählung würde Mara sich cremefarben kleiden wie eine erwachsene Frau. Erst nach der Vermählung würde Timon schwarze Kleidung tragen wie ein erwachsener Mann. Braun und Blau hatten nichts miteinander zu schaffen, außer bei der Arbeit.
    Timon so ruhig und konzentriert seiner Beschäftigung nachgehen zu sehen fiel Jana schwer. Hatte er nicht einmal Schuldgefühle? Sie wandte sich ihrer eigenen Arbeit zu und hob den Kopf erst wieder, als der Gongschlag zur Pause rief.
    Dazu setzte man sich draußen zusammen. Auf dem langen Tisch unter dem Ahorn standen schon die Becher bereit und zwei große Warmhaltekannen mit Tee. Jana beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Auch Timon sagte nichts. Sie sah in seine hellen Augen und blickte rasch wieder weg.
    Seit sechsundzwanzig Tagen war Mara nun im Strafhaus eingesperrt. Sechsundzwanzig Tage ohne einen einzigen Sonnenstrahl auf der Haut. Jana blinzelte in die Krone des Ahorns hinauf, der seine Äste über dem Tisch ausbreitete. Die Blätter bewegten sich leise im Wind. Sechsundzwanzig Tage, das war eine halbe Ewigkeit.
    Jana schloss die Augen. So viele Zweifel. Nichts war mehr wie sonst. Jeder hier am Tisch konnte der Verräter sein. Und dabei hatte er sich nur an die Gesetze gehalten.
    Sogar Timon. Vielleicht hatte er ja wirklich bereut. So würde zumindest La Lune das sehen. So würden es die anderen Kinder des Mondes sehen. Er hatte bereut, gestanden und sich geläutert.
    Geläutert?
    Von was?
    Jana war froh, als die Pause vorüber war. Sie stand auf, stellte ihren Becher auf das Tablett am Ende des Tischs und sah sich plötzlich Timon gegenüber.
    »Lass mich«, sagte sie und wollte an ihm vorbei.
    Er hielt sie am Arm

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