Das blaue Mädchen
Menschen und aus dieser Verbindung entstand dann ein Halbgott oder eine Halbgöttin.
Keiner dieser Götter war vollkommen. Sie kannten Eifersucht, Hass und Neid, waren intrigant, gewalttätig, maßlos und ungerecht.
Aber musste ein Gott denn nicht vollkommen sein? Was machte ihn sonst zum Gott, wenn nicht seine Vollkommenheit?
»Gott ist die Liebe und das Leben«, hatte der Pfarrer gesagt und Mara angelächelt, wie auch La Lune sie oft angelächelt hatte, ein wenig rätselhaft und so, als gelte das Lächeln gar nicht ihr.
Mara hatte gelernt, dass La Lune die Liebe sei. Obwohl La Lune keine Göttin war. Sie war nur die Abgesandte der Mondheit. Eine moderne Halbgöttin vielleicht. Eine Auserwählte. Die einzige Auserwählte.
Sie hatte ein ganz normales Leben in der Welt draußen geführt. Bis zu der Nacht, in der ihr ein Traum geschickt worden war.
So erzählte es La Lune immer wieder, so stand es in ihrem Buch, so lernten es die Kinder. In diesem Traum wurde ihr eine Vision offenbart, die Vision der Mondheit und eines Lebens nach ihren Regeln.
Der ersten Vision folgten weitere. Und La Lune scharte Anhänger um sich. Sie wurde zu dem, was sie heute war, baute eine Gemeinschaft auf, die von Jahr zu Jahr größer wurde, die Gemeinschaft der Kinder des Mondes.
Die Kinder des Mondes werden die Einzigen sein, die den Untergang der Menschheit überleben.
La Lune hatte den Untergang der Menschheit schon einige Male vorhergesagt. Aber dann war er nicht eingetroffen. La Lune hatte es damit erklärt, dass die Mondheit beschlossen habe, den Menschen eine weitere Möglichkeit zu gewähren, sich zu bessern und zu läutern, das Wesentliche zu erkennen, ein Kind des Mondes zu werden.
Denn die Mondheit ist gütig
Mara spürte, wie ihre Gedanken sich verwirrten. Es war so schwer, gegen die Stille anzudenken. Sie streckte die Hand aus. Ihre Nägel waren zu lang. Ob sie um Schere und Nagelfeile bitten durfte? Wahrscheinlich würde man ihr nichts Scharfes, nichts Spitzes geben. Manche sollten versucht haben, sich hier im Strafhaus etwas anzutun.
Das wurde nur gemunkelt. Niemand sprach es offen aus.
»Ich könnte mir nie das Leben nehmen«, hatte Jana einmal gesagt. »Ich hätte zu große Angst vor den Schmerzen.«
La Lune verurteilte Selbstmord als einen feigen Akt, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
»Feige?« Jana hatte sich die Arme gerieben. »Stell dir vor, wie viel Mut dazu gehört.« Und gleich hatte sie wieder ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie damit La Lune und den Lehren der Mondheit widersprach.
Mara versuchte, sich Janas Gesicht vorzustellen. Es gelang ihr nicht. »Jana«, flüsterte sie. »Kannst du spüren, dass ich an dich denke?«
Sie wünschte, Gedanken hätten die Kraft von Berührungen. Vielleicht wäre ihr dann weniger kalt.
Der Mondtag war ein Tag der Besinnung. Die Frauen und Mädchen trugen ihre Gewänder, das Gebet dauerte länger als an den übrigen Tagen und La Lune hielt eine feierliche Ansprache. Auch das Frühstück wurde an den Mondtagen ausgedehnt und es gab nicht das übliche Brot, sondern Brötchen, die noch warm auf den Tisch kamen.
Heute waren es Kleiebrötchen.
Miri verabscheute Kleiebrötchen. Sie nahm sich auf Janas Zureden hin ein wenig Obst, kaute jedoch endlos darauf herum.
»Du willst immer eine Extrawurst«, sagte Indra.
»Wurst mag ich gar keine«, sagte Miri. »Tiere esse ich nämlich nicht.«
Kein Kind des Mondes aß Fleisch.
Tiere sind ebenso Geschöpfe der Mondheit wie die Menschen.
»Niemand isst Tiere«, sagte Indra.
»Die Leute von draußen wohl.« Miri fing an, einer Weintraube die Haut abzuziehen. »Die essen Kühe und Kaninchen und Hühner und Hunde und Katzen.«
»Hunde und Katzen nicht«, sagte Indra. »Die sind nur zum Angucken.«
»Nicht nur zum Angucken.« Die Weintraube flutschte Miri aus den Fingern. »Auch zum Streicheln und zum Liebhaben.«
»Kinder des Mondes haben alle Geschöpfe lieb«, sagte Indra.
»Dich aber nicht.« Miri klaubte die Weintraube vom Tisch, sah, dass Krümel daran hingen, und ließ sie angewidert auf ihren Teller fallen.
Indras Lippen fingen an zu zittern. Bevor sie in Tränen ausbrechen konnte, nahm Jana ihre Hand und drückte sie leicht. Sofort veränderte sich Indras Gesichtsausdruck. Triumphierend sah sie Miri an. Sie hielt Janas Hand ganz fest.
»Die Leute draußen sind Kannabelen«, sagte Miri.
»Kannibalen heißt das.«
»Weiß ich.«
»Und wieso sagst du das dann falsch?«
Darauf ging Miri nicht ein.
Weitere Kostenlose Bücher